* Herr Perel, Sie sind oft zu Lesungen vor Jugendlichen unterwegs. Was ist ihr besonderes Anliegen, ihre Geschichte gerade vor jungen Menschen zu erzählen?
Sally Perel: Zeitzeugen können in den Köpfen der Jugend historisches Interesse wecken, und das ist mein zentrales Anliegen, an dieser Vergangenheitsaufklärung Anteil zu nehmen und damit die historische Wahrheit wach zu halten.
* Woher nahmen Sie die Motivation, Ihre Autobiographie nach 40 Jahren des Schweigens zu schreiben?
Sally Perel: Man kann solch ein problematisches Trauma nicht auf die Dauer verdrängen. Ich benötigte eine Zeitdistanz von 40 Jahren, um es vom Herzen freigeben zu können, eine Art Selbsttherapie und auch, um es nicht mit ins Grab zu nehmen, sondern die Erlebnisse mit einer Botschaft den jungen Generationen zu überliefern. Das motivierte mich.
* Sie selbst waren gerade einmal 14, als ihre Eltern Sie haben gehen lassen, um Sie vor dem Tod zu retten. Woher nahmen Sie die Kraft, sich auf der Flucht durchzuschlagen?
Sally Perel: Der Mensch weiß manchmal gar nicht, welch enormes Reservoir von Lebenskraft er besitzt, wenn es sich um das Überleben handelt. Noch dazu beflügelt mit dem Abschiedsbefehl der Mutter: „Du sollst leben!“
* Ein jüdischer Junge, der in die Hitlerjugend gerät. Wie erlebten Sie und überlebten Sie die Situation, nachts den Judenstern ans Fenster zu malen und sich tagsüber den Endsieg zu wünschen? Wie haben Sie diese zwei tödlich sich gegenüberstehenden Seelen in sich ertragen?
Sally Perel: Durch Balance gewisser Schutzmechanismen, welche die zwei sich gegenüberstehenden Seelen kontrollierten und regelten. Ich spielte diese vom Schicksal aufgezwungene Rolle nicht. Irgendwie wurde ich es. Wenn man jahrelang als Opfer unter dem Feind lebt und tagtäglich mit ihm von demselben Teller isst, wird man einer von ihnen. Dieser psychologische Prozess kann das am besten erklären.
* Auch heute noch Kämpfen Sie mit so mancher Nazi-Doktrin. Mit welchen insbesondere? Ist „Jupp“ auch heute noch in Ihnen? Und wann meldet er sich? Wie versuchen Sie ihn loszuwerden?
Sally Perel: Sehr oft sehe ich Filme aus dem Zweiten Weltkrieg und tiber den NS-Staat. Sowie ich die erste Hakenkreuzflagge sehe, oder wie sie marschieren, erwacht in mir der Jupp und in seltsamer Nostalgie marschiert und singt er plötzlich mit. Bestimmte Sentimentalitäten des damaligen Enthusiasmus erfassen wieder den Jupp. Ich bitte um Verständnis, wenn ich nicht schildem möchte, was noch alles andere Jupp in sich mitträgt.
* Wie sind heute Ihre Beziehungen zu Russland und zu Deutschland? Waren Sie wieder in Peine? Wie haben Sie Ihre Geburtsstadt erlebt?
Sally Perel: Ich sehe Russland als Gegenpol der schädlichen Amerikanisierung unserer Kultur und auch wenn nur deshalb, hat Russland meine volle Sympathie. Der einfachen Menschlichkeit zuliebe. Deutschland verblieb mein Mutterland. Es verlieh mir das Bundesverdienstkreuz, die Geburtsstadt Peine erkannte mich als ihren Ehrenbürger an und somit wurde das damals verstoßene Kind zurück in den Schoß des Geburtsortes aufgenommen. Ich komme gerne nach Deutschland und fühle mich immer als erwünschter Gast.
* Sie leben seit 60 Jahren in Israel. Wie hat sich das Land seit den Gründungstagen verändert?
Sally Perel: Mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 begann eine gigantische Phase der Entwicklung in allen Gebieten. Nur ein entscheidender historischer Fehler wurde begangen: die rücksichtslose, ignorierende Einsiedlung in die arabische Umwelt. Dafür hat uns die Geschichte bestraft. Aber von 1948 bis 1967 ging noch alles gut. Nach dem 6-Tagekrieg wurden wir eine Besatzungsmacht mit messianischen Visionen. Wir halten seitdem das palästinensische Volk unter militärischer Okkupation, welche andauernd eskalierte und noch eskaliert und immer mehr unschuldige Menschen, auf beiden Seiten, in den Tod stürzt.
* Nach Israel immigrieren immer mehr jüdische Familien aus Russland. Mit welchen Schwierigkeiten haben sie zu kämpfen? Schwierigkeiten, die es womöglich vor 60 Jahren noch nicht gegeben hat?
Sally Perel: Die jüdischen Einwanderer aus Russland stoßen hier auf enorme Schwierigkeiten. Die Unkenntnis der hebräischen Sprache ist ein entscheidendes Hindernis, Ihre akademischen Professionen entsprechen nicht immer der erforderlichen Ebene hierzulande und auch kulturell erleben sie Enttäuschungen. Aber die Zeit ist auch hier ein guter Heiler, viele haben sich gut eingegliedert und wem es nicht gelingt, der kehrt zurück nach Russland. Ich höre, die Zahl der Rückkehrer steigt.