Da sitzt er.
Mitten in der Hotellobby. Auf einem aus Rattan geflochtenen, übergroßen Korbstuhl. Wie ein König auf seinem Thron, den vornehmen Gehstock in der Hand. Ein Zepter.
Wochenlang wurden wir auf diesen Moment vorbereitet. Mit Filmmaterial, Büchern, Daten, Geschichte. Ein jüdischer Junge, der sich als Volksdeutscher ausgab, um nicht unter die Räder der Geschichte zu kommen – einer, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat.
Thema Nummer 1 an der Deutschen Schule Moskau.
Der Moment bleibt für einen ganz kurzen Augenblick stehen. Das ist er.
Ein Gentleman, der sich erhebt, als wir auf ihn zugehen. Ein charismatisches Lächeln. Ein gutes Rasierwasser.
Ich strecke meine Hand aus. Ein fester Händedruck. Namen werden ausgetauscht.
Ganz und gar nicht wie der alte Mann, den wir erwartet hätten. Ganz das jugendlich gebliebene Gegenteil.
Salomon Perel.
Uns wurde die Gesellschaft Salomons für den Sonntag zugesagt, und am Samstagmorgen spätestens hatten wir es nicht mehr ausgehalten und Leute aus jenen Gruppen, die Salomon bereits getroffen hatten, zu Zwecken tief greifender Investigation beiseite gezogen.
Fazit: Begeisterung. Und eine kleine Aufregung breitete sich allmählich auch in uns aus.
Samstagabend berieten wir drei Mädels noch über die letzten Details, um unser Treffen unter dem Stern der Perfektion stehen zu lassen.
Und dann kam der Morgen des Sonntags.
Früh, früh brachen wir auf, um pünktlich zu sein. Und ein Taxi bestellten wir im Voraus.
Das Taxi wartet weiß glänzend vor dem Hotel auf uns. Bitteschön, Herr Perel, steigen Sie ein.
Ich halte die Tür auf und bin leicht überwältigt von der Tatsache, wer da eigentlich vor mir steht. Was er erlebt, was er durchgemacht, was er gesehen hat. Blickkontakt. Ein schüchternes Lächeln unsererseits.
An diesem Tag nehmen wir Salomon Perel mit zu den Sperlingsbergen. Die Sicht auf Moskau ergießt sich wie ein schönes Gemälde vor uns, eine wärmende, strahlende Sonne, ein schöner Tag. Vielleicht leicht melancholisch ob des durch die saftig frischgrünen Baumkronen rauschenden Windhauches.
Ein kurzer Streifzug durch eine Straße mit allem möglichen Krimskrams, den der russische Souvenirmarkt zu bieten hat.
Schauen, kommentieren, fotografieren. Schließlich ist Salomon um einen Feldbecher-Schlüsselanhänger reicher. Na, ist das was, Mädels? Ein Grinsen. Wir kichern und setzen unseren Spaziergang im angrenzenden Parkgelände fort.
Was für ein Gefühl ist es, das Sie haben, wo Sie jetzt tatsächlich in Moskau sind?
(Ein Lächeln.) Ein sehr, sehr schönes Gefühl.
Ja wirklich? Erinnert es Sie nicht an den Krieg?
Und Salomon erzählt. Es ist faszinierend, ihm zuzuhören. Er ist ein echter Zeitzeuge und das wird uns immer mehr bewusst.
Interessiert fragt er uns dann auch nach unserer verhältnismäßig kurzen Lebensgeschichte – wir antworten gern. Als er hört, dass ich in Warschau gelebt habe, wechseln wir einige wenige Worte auf Polnisch. Die Diskussion wird ernster. Wir sprechen über Auschwitz, Religion, das Juden- und das Christentum. Salomons Leben in Israel. Den Krieg. Das Buch. Den Film. Wir sprechen über Gott und die Theodizee-Frage.
Die Wärme der Sonne steigt uns allmählich unter unseren zu schweren Mänteln zu Kopf. Ein Eis wäre jetzt gut, und gut, dass in der Nähe ein kleines Restaurant verborgen ist.
Und so sitzen wir an einem sonnigen Sonntagvormittag beim Eisessen mit Salomon Perel. Einfach so. Als ob es das Normalste auf dieser Welt wäre. Und wir sprechen. Und es ist ein reichlich seltsames Gefühl, unwirklich, ein wie in Watte gehülltes Bewusstsein, dass da ein lebendiger Teil der Geschichte vor uns sitzt, ein Teil jener Geschichte, die uns allen mindestens einmal einen entsetzten, angewiderten Schauer durch den Körper gejagt hat. Ein Teil jener Geschichte, die so fantastisch und grausam so böse und brutal ist, dass wir sie beinahe nicht glauben wollen und können, aber es doch müssen.
Dann der Tag der Lesung an der Deutschen Schule Moskau. Und aus der Pflichtveranstaltung über die Geschichte des Überlebens werden zwei Stunden, von Gänsehaut und bei manchen sogar von einigen Tränen begleitet.
Stehapplaus. Blumen. Wir tauschen E-Mail-Adressen aus.
Und ein herzlicher, in Umarmungen ertränkter Abschied.
Und als wir den Raum verlassen, sitzt er da, erhöht über alle auf einem Podest. Wie ein König auf seinem Thron. Umringt von einem Königreich an bewundernden jungen Leuten. Der Autogrammkugelschreiber – ein Zepter. Salomon Perel.