Um es vorwegzunehmen: Dieser Sprachgebrauch samt der dahinterstehenden Denke ist Unsinn – und noch dazu gefährlicher Unsinn. Wie das? Ist es nicht gerade gefährlich, die Dinge nicht so zu nennen, weil man dann die Augen verschließen würde? Muss vom Nazi und seinen sprachlichen Spielarten die Rede sein, um sich angemessen klar und unmissverständlich zu positionieren?
Auch dies vorweg und zur allgemeinen Klarstellung: Die hohen Werte der Menschlichkeit, der Achtung und Würde, des friedlichen Miteinanders, der Freiheit und der kulturellen Vielfalt sind unverhandelbar. Verstöße müssen von einem starken Rechtsstaat verfolgt und geahndet werden.
Wer andere als Nazi bezeichnet, macht es sich leicht. Bei der Schwere des Vorwurfs scheint das kaum vertretbar. Was ist ein Nazi? Ein Anhänger des Nationalsozialismus – ein Ideologe, Rassist, Chauvinist. Oder jemand, der eigentlich Ignaz heißt und aus Bayern oder Österreich kommt. Historisch interessant ist der ursprüngliche Gebrauch des Worts als Abkürzung bzw. Koseform für Ignaz. Wertneutral ist das Wort auch in dieser Verwendung nicht: es bezeichnet einen dummen Menschen, einen Einfaltspinsel. Auch die internationale Karriere des Begriffs ist bemerkenswert: Da ist z.B. die Rede von grammar nazis. Damit sind Menschen gemeint, die mit drastischer Kritik auf jede Form der Abweichung von grammatikalischer Richtigkeit reagieren (z.B. in Foren, im mdl. Sprachgebrauch etc.). Das Radikale, Unnachgiebige und in gewisser Weise Unmenschliche verbindet den historischen Nazi mit diesen zeitgenössischen Spielarten des Begriffs. Der neologistische Sprachgebrauch steht aber in einem völlig neuen, historisch entlasteten Kontext.
Nun, der Nazi: ein Reizwort, Buzzword, Kampfbegriff – politisch und publizistisch. Was sind die Ziele eines solchen Sprachgebrauchs? Politisch vielleicht: die Diskreditierung des Gegners. Publizistisch womöglich: Aufmerksamkeit heischen bei der potenziellen Leserschaft. Wer aber weder politisch noch publizistisch seine Brötchen verdient, sollte eventuell Vorsicht walten lassen. Er gerät nämlich leicht in die Fänge interessengeleiteten Sprachgebrauchs, der als Machtinstrument genutzt wird.
Nun könnte man einwenden, dass selbstredend nicht der historische Nazi gemeint ist, sondern Nazi gewissermaßen als Metapher genutzt wird. Metaphern wirken assoziativ. Sie lassen Bilder entstehen, rufen Vorstellungen ins uns hervor. Welche Vorstellungen könnten das sein? Wir sehen dann vielleicht Bilder von Hitler, Himmler, Goebbels. Schwarze Lederjacken mit Hakenkreuzen in schwarz, weiß, rot. Krieg. Zerstörung, Tod, Vernichtung. Konzentrationslager mit unermesslichem Leid. Europa: ein Trümmerfeld. Kurz: menschliches Elend in apokalyptischer Dimension. Was aber — was hat all dies mit den Menschen in unserer Gesellschaft zu tun, die Nazis genannt werden?
Es gibt Erklärungsversuche. Wie kommt es, dass Menschen radikal gegen Einwanderung sind, biologistisch argumentieren und rassistisch pöbeln? Schlummert die Angst vor dem Fremden wirklich in jedem? Sind es Verführung und Gewalt, die Menschen anfällig für Ideologien machen, wie Hans-Ulrich Thamer, Professor emeritus für Geschichte, schreibt? Was haben wir gelernt aus den zahllosen Analysen zum Dritten Reich, die die Geschichtswissenschaft, die Politologie, die Soziologie, die Psychologie und andere Disziplinen hervorgebracht haben mit Erkenntnissen zur Erklärung demokratiefeindlicher Haltungen? Es scheint: nicht viel.
Wie wäre es denn mit dieser – etwas anderen – Lesart: Angst, Wut, Ärger, Hilflosigkeit, Verzweiflung, das Gefühl, sozial abgehängt zu sein – ist es das, was bei Menschen zu einem Verhalten führen kann, das dann als Nazitum bezeichnet wird? Oder: Orientierungslosigkeit, Verführung, Gewalt, Identität, Halt – ist es das, was bei Menschen zu einem Verhalten führen kann, das dann als Nazitum bezeichnet wird? Eines wird deutlich: Der hier identifizierte Nährboden fremdenfeindlicher Haltungen ist einer, der seine Kraft aus Unglück, Nachteil und Schwäche zieht. Der Nazi aber ist der Inbegriff des Bösen. Das ist ein gehöriger Unterschied. Nietzsche hat eine radikale Haltung gezeigt, als er davon sprach, dass es nur einen Christen gab und jemals geben würde: Jesus Christus selbst. Der Nationalsozialismus ist Vergangenheit und bleibt singulär in seinem Schrecken. Der gegenwärtig überbordend bemühte Nazi bagatellisiert das Dritte Reich, verkennt komplexe soziale Zusammenhänge der Gegenwart und spaltet unsere Gesellschaft.
Sprache ist verführerisch. Unser Denken beeinflusst nicht nur unsere Sprache – unsere Sprache beeinflusst auch unser Denken. Dies in einer Weise, die uns oft unbemerkt bleibt. Wir sind in beklemmender Weise in Sprache verstrickt. So sind wir versucht, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Wie sollen Menschen reagieren, die als Nazis bezeichnet werden? Bezeichnet werden, ist das überhaupt das richtige Wort? Wie wäre es mit folgenden Bezeichnungen: Etikettierung, Diskreditierung, Stigmatisierung, Brandmarkung, Beschimpfung, üble Nachrede, Rufmord und dergleichen.
Wie können, wie sollen die sog. Nazis also reagieren? Vermutlich werden sie mit gleicher Härte verbal zurückschlagen, es wird ein Wortgefecht geben und rhetorische Manöver, Totschlagargumente werden ins Feld geführt, die Fronten geklärt, wunde Punkte getroffen, der Gegner mundtot gemacht, schwere Geschütze aufgefahren und so weiter. Das Niveau dürfte ungefähr vergleichbar sein mit dem, andere mit Dreck zu bewerfen – buchstäblich. Hier lässt sich in großer Klarheit betrachten: eine Sprache der Gewalt. Der Schritt zu echten Handgreiflichkeiten ist klein. Etikettierungen jedweder Couleur erschweren den Dialog, verhindern ihn vermutlich sogar. Ob man es glauben kann, oder nicht: Auch die, die als Nazis bezeichnet werden, sind: Menschen. Menschen! Menschen.
Sprache wirkt ausgesprochen subtil. Ernst von Glasersfeld, der Erfinder des Radikalen Konstruktivismus, erzählt eine Anekdote, in der die historischen Nazis sprachlich in Verlegenheit gerieten: 1936 war die Olympiade in Berlin. Da wurde nicht nur ein Stadium und ein Olympisches Dorf gebaut, sondern auch ein Theater. Der Freund, bei dem ich zu Besuch war, führte mich am Tag vor der Eröffnung in das Olympische Dorf und schließlich auch zu dem Theater. Da war noch ein Gerüst vor dem Eingang und einige Männer arbeiteten an einem Fries über dem Portal. Mein Freund erklärte, dass man anscheinend zu spät, nämlich erst, als die Inschrift fertig war, merkte, dass sie für die regierende Partei nicht annehmbar war. Die Inschrift lautete nämlich „Ein Volk, ein Führer, ein Theater.“
Der inflationäre Gebrauch des Wortes Nazi führt in die Irre, offenbart ideologisches Denken, verschleiert dramatische psychologische Phänomene, wird politisch und publizistisch missbraucht und schlägt tiefe, kaum heilbare Wunden in unsere Gesellschaft. Wie können wir die Menschen, die unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung feindlich gegenüberstehen, zurückgewinnen? Bestimmt nicht, indem wir sie als Nazis bezeichnen. Das ist zu einfach. Wir müssen uns schon die Mühe machen, genau hinzusehen, genau zu verstehen und dann genau zu beschreiben. Wir leben in unruhigen Zeiten: Mit der Sprache, die wir sprechen, gestalten wir unsere Welt aktiv mit. Zerstörerische Etikettierungen helfen da kaum. Vielleicht ist die hier vorgebrachte Sprachkritik zu viel zugemutet. Jedoch: Wir brauchen schon eine etwas präzisere Sprache, um: zu verändern!
Zum Schluss und nochmal zur Klarstellung, ganz unmissverständlich: Die hohen Werte der Menschlichkeit, der Achtung und Würde, des friedlichen Miteinanders, der Freiheit und der kulturellen Vielfalt sind unverhandelbar.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Kolumne aus der Serie !Provokulteur!
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Was ein israelischer Politologe zu Antisemitismus zu sagen hat: http://www.deutschlandfunk.de/david-ranan-muslimischer-antisemitismus.1310.de.html?dram:article_id=416028
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English version:
Column
We read not only these days about inner Nazism, Nazi marches, Nazi-motivated violence and the like. Nazi is a much-used word. A column by the ! Provokulteur!
To put it in a nutshell: This use of language and the thinking behind it is nonsense – and dangerous nonsense at that. How? Isn’t it just dangerous not to call a spade a spade, because then one would close one’s eyes? Is it necessary to speak of the Nazi and his linguistic varieties in order to take an appropriately clear and unambiguous position? This too, at the outset and for general clarification: the high values of humanity, respect and dignity, peaceful coexistence, freedom and cultural diversity are non-negotiable. Violations must be prosecuted and punished by a strong constitutional state.
Ignaz, the Nazi
Those who call others Nazis make it easy for themselves. Given the seriousness of the accusation, this hardly seems justifiable. What is a Nazi? A supporter of National Socialism – an ideologue, racist, chauvinist. Or someone whose real name is Ignaz and who comes from Bavaria or Austria. Historically interesting is the original use of the word as an abbreviation or cose form for Ignaz. The word is not value-neutral even in this usage: it denotes a stupid person, a simpleton. The international career of the term is also remarkable: there is talk, for example, of grammar nazis. This refers to people who react with drastic criticism to any form of deviation from grammatical correctness (e.g. in forums, in oral usage, etc.). The radical, intransigent and, in a certain sense, inhumane aspect connects the historical Nazi with these contemporary variations of the term. The neologistic use of language, however, stands in a completely new, historically relieved context.
Buzzword
Now, the Nazi: an irritant, buzzword, fighting term – political and journalistic. What are the aims of such a use of language? Politically, perhaps: the discrediting of the opponent. Journalistically, perhaps: to attract the attention of potential readers. However, anyone who earns neither political nor journalistic bread should perhaps exercise caution. He easily falls into the clutches of interest-driven language, which is used as an instrument of power.
Metaphor of evil
Now one could object that, of course, the historical Nazi is not meant, but Nazi is used as a metaphor, so to speak. Metaphors have an associative effect. They give rise to images, evoke ideas in us. What ideas could these be? We may see pictures of Hitler, Himmler, Goebbels. Black leather jackets with swastikas in black, white, red. war. Destruction, death, annihilation. concentration camps with immeasurable suffering. Europe: A Field of Ruins. In short: human misery in apocalyptic dimensions. But what – what does all this have to do with the people in our society who are called Nazis?
Seduction and Violence
There are attempts at explanation. How is it that people are radically opposed to immigration, argue biologistically, and rabble-rouse in racist terms? Does the fear of foreigners really lie dormant in everyone? Is it seduction and violence that make people susceptible to ideologies, as Hans-Ulrich Thamer, professor emeritus of history, writes? What have we learned from the countless analyses of the Third Reich that history, political science, sociology, psychology and other disciplines have produced with findings to explain anti-democratic attitudes? It seems: not much.
Breeding ground
How about this – somewhat different – reading: Fear, anger, resentment, helplessness, despair, the feeling of being socially disconnected – is this what can lead people to behave in a way that is then described as Nazism? Or: disorientation, seduction, violence, identity, support – is this what can lead to behavior in people that is then described as Nazism? One thing becomes clear: The breeding ground of xenophobic attitudes identified here is one that draws its strength from misfortune, disadvantage and weakness. The Nazi, however, is the epitome of evil. There is a due distinction here. Nietzsche showed a radical attitude when he spoke of the fact that there was and would ever be only one Christian: Jesus Christ himself. National Socialism is past and remains singular in its horror. The current exuberant Nazi trivializes the Third Reich, fails to recognize complex social contexts of the present, and divides our society.
Devil with Beelzebub
Language is seductive. Our thinking not only influences our language – our language also influences our thinking. It does so in ways that often go unnoticed by us. We are enmeshed in language in oppressive ways. Thus, we are tempted to cast out the devil with Beelzebub. How should people react when they are called Nazis? To be labeled, is that even the right word? How about the following labels: Labeling, discrediting, stigmatizing, branding, name-calling, slander, character assassination, and the like.
Language of violence
So how can, how should the so-called Nazis react? Presumably, they will retaliate verbally with equal force, there will be a war of words and rhetorical maneuvering, arguments to kill will be brought into the field, the fronts will be clarified, sore points will be hit, the opponent will be muzzled, heavy artillery will be brought in, and so on. The level is probably roughly comparable to that of throwing mud at others – literally. Here we can observe with great clarity: a language of violence. The step to real fisticuffs is small. Labeling of any kind makes dialogue more difficult, probably even prevents it. Believe it or not: even those who are called Nazis are: Human beings. Human beings! People.
Theater
Language has a decidedly subtle effect. Ernst von Glasersfeld, the inventor of radical constructivism, tells an anecdote in which the historical Nazis were linguistically embarrassed: 1936 was the Olympics in Berlin. There was not only a stadium and an Olympic village built, but also a theater. The friend I was visiting took me to the Olympic Village the day before the opening and finally to the theater. There was still scaffolding in front of the entrance and some men were working on a frieze above the portal. My friend explained that apparently they realized too late, when the inscription was finished, that it was not acceptable to the ruling party. Indeed, the inscription read „One people, one leader, one theater.“
Troubled times
The inflationary use of the word Nazi misleads, reveals ideological thinking, obscures dramatic psychological phenomena, is abused politically and journalistically, and inflicts deep, barely healable wounds on our society. How can we win back the people who are hostile to our liberal democratic order? Certainly not by calling them Nazis. That is too easy. We have to take the trouble to look closely, to understand precisely, and then to describe accurately. We live in troubled times: We actively shape our world with the language we speak. Destructive labeling hardly helps. Perhaps the criticism of language presented here is too much to ask. However: We need a more precise language in order to: to change!
Finally, and again for clarification, quite unequivocally: The high values of humanity, respect and dignity, peaceful coexistence, freedom and cultural diversity are non-negotiable.