Kai-Henrik Kühl ist Fachbereichsleiter für das Fach Deutsch an der Kooperativen Gesamtschule Neustadt. Im Interview mit unserm Redakteur Marvin Scott Schlamelcher beantwortet er Fragen zum Thema Interkulturelles Lernen.
Redakteur (R): Lieber Herr Kühl, was zeichnet denn für Sie die deutsche Kultur aus?
Kai-Henrik Kühl (K): Ja, das ist die schwierigste Frage direkt am Anfang. Darauf kann man auch nicht so klar antworten, ohne sich irgendwie in die Nesseln zu setzen oder auch politisch sich ein bisschen zu positionieren. Ich würde dafür einen weiten Kulturbegriff für angemessen halten, der eben nicht davon ausgeht, dass es eine Kultur gibt, sondern mehrere Subkulturen, die dann übergeordnet doch eine Kultur bilden. Natürlich gibt es bestimmte Werte, die auch im Grundgesetz definiert sind, nur lässt sich die Kultur nicht so einfach fassen. Ich bin durchaus, das ist jetzt wieder ein politisches Statement, der Auffassung, dass der Islam zu Deutschland gehört, einfach weil er da ist und darauf müssen so starre Dinge wie der DUDEN, das Grundgesetz etc. auch eine Antwort finden, was sie auch tun. Aber wir können keine lineare Kulturdefinition verwenden, weil die Vielfalt, die in den Subkulturen besteht, zu groß ist, um daraus eine einfache Schnittmenge zu bilden.
R: Vermittelt der Deutschunterricht die deutsche Kultur?
K: Ja, der Deutschunterricht bildet natürlich die deutsche Kultur ab, auch wenn wir natürlich auch durch die Bildungsstandards und Kerncurricula immer stark hochkulturell orientiert sind. Die Subkulturen werden teilweise eingefangen. Aber erst sehr spät und auf einem hohen Reflexionsniveau, weniger auf so einem authentischen Level, wo man es relativ früh eigentlich machen könnte. Und der Deutschunterricht versucht das abzubilden. Aber was ich gerade über starre Schemata oder starre Gesetzestexte gesagt habe, gilt natürlich auch für die Curricula. Da könnte man auch das ein oder andere an früher Stelle schon, wenn ich an Kiezdeutsch zum Beispiel denke, ergänzen, was durchaus anschaulich wäre und auch den interkulturellen Aspekt oder das metakulturelle Denken, also das Nachdenken über die eigene Kultur, ganz gut fördern würde.An einer Stelle, wo sich Schüler auch wirklich dafür interessieren. Deswegen wäre der Umgang mit Subkulturen da noch interessanter, aber natürlich vermittelt der Deutschunterricht deutsche Kultur, aber er könnte es in einer noch größeren Bandbreite tun.
R: Okay, alles klar. Dann kommen wir jetzt am besten zu dem Hauptthema, dem interkulturellen Lernen. Denken Sie denn, dass das interkulturelle Lernen im Deutschunterricht möglich ist?
K: Ja, absolut, denn wir setzen uns in erster Linie zwar mit der deutschen Kultur auseinander, es kommt aber immer wieder zu Vergleichen, die also in gewisser Weise gewollt aber auch ungewollt sind. Es gibt einerseits das bewusste interkulturelle Lernen, wenn wir zum Beispiel Vergleichende Literaturwissenschaft betreiben. Aber es gibt natürlich auch das unterschwellige interkulturelle Lernen, wenn wir einfach Nicht-Muttersprachler in den Deutschunterricht integrieren müssen und dabei kommt es ja durchaus auch zu Wertekonflikten. Das passiert auch relativ früh. Außerdem sind die Lehrwerke bemüht, interkulturelles Lernen vermehrt einzubringen. Beispiele wären, dass eben bei der Unterrichtseinheit Märchen schon im fünften Jahrgang nicht nur deutsche Märchen auftauchen, sondern auch Märchen aus Tausend und eine Nacht, die aber vergleichbar sind. Und insofern wird auch früh ein interkultureller Zugang gelegt, der, glaube ich, ziemlich produktiv und interessant ist.
R: Okay. Jetzt haben Sie schon die nächste Frage, die Wie-Frage, beantwortet. Also denken Sie nicht, dass der Deutschunterricht ausschließlich die deutsche Kultur vermitteln sollte?
K: Nein, wie gesagt, da mein Kulturbegriff ja relativ weit ist, sind da viele Dinge mitabgedeckt. Ich glaube, wenn der Deutschunterricht sich nur auf die deutsche Kultur, also auf deutschsprachige Texte beschränken würde, dann würde man die deutsche Kultur gar nicht verstehen. Das heißt, die deutsche Kultur wird ja vielfach beeinflusst und grenzt sich auch teilweise bewusst, teilweise unbewusst von anderen Kulturen ab und gerade das hilft ja überhaupt zu definieren, was deutsch ist, wenn man das überhaupt noch sagen kann heutzutage.
R: Welche Chancen bietet denn interkulturelles Lernen im Deutschunterricht?
K: Ja, auch da muss man wieder unterscheiden zwischen dem bewussten interkulturellen Lernen und dem latenten interkulturellen Lernen. Bewusst: auf der Bewusstseinsebene ist es eigentlich fast schwieriger, weil man sich da mit dem Verstand versucht, einen Zugang zu verschaffen, aber nicht mitfühlt, weil man sehr analytisch und distanziert herangeht. Das heißt, wenn ich bewusst versuche, interkulturelles Verständnis zu generieren, dann ist das immer ein rationales Verständnis und dann stößt man auch an Grenzen, wenn einfach politische Haltungen sehr stark von der, die ich jetzt versuche zu vertreten, zum Beispiel abweichen, eine relativ engstirnige Haltung besteht und man relativ spät damit anfängt, interkulturell zu lernen. Dann stößt man da manchmal doch an Grenzen, die relativ unüberwindbar sind. Wenn man es aber früh anlegt und jetzt auch durch die vielen Sprachlernschüler, die zugewandert sind, auf einer empathischen Ebene versucht und das latente, im Bereich der interkulturellen Pädagogik vielleicht anzusiedelnde Lernen, einbezieht, dann glaube ich schon, dass es sehr produktiv ist, wenn es eben auch aus einem konkreten Anlass, einem authentischen Anlass geschieht, wenn es mit Empathie geschieht. Wir wollen verstehen, warum Person X anders tickt als Person Y, wo Wertekonflikte sind und wir wollen die versuchen zu vermitteln und zu lösen und in diesem täglichen Abarbeitungsprozess, da liegt eigentlich viel Potenzial und wenn man beides kombiniert, sodass das Empathische dann irgendwann mit dem Rationalen Hand in Hand geht, dann hat man eigentlich viel geschafft. Aber rein auf einer rationalen Ebene ist es schwierig.
R: Und wie kann denn interkulturelles Lernen konkret aussehen, also im Deutschunterricht beispielsweise?
K: Genau, also hier geht es jetzt darum, „Was kann man eigentlich als Lehrer tun, wie kann man das indizieren?“ Auch da wieder zwei Ebenen: Wir haben jetzt gerade das Thema oder dieses Thema schwerpunktmäßig im kommenden Abiturjahrgang 2019 durch Nathan der Weiseals Pflichttext und Gehen, ging, gegangen. Der Roman Gehen, ging, gegangen zeichnet ja am Beispiel des Protagonisten genauso einen Entwicklungsprozess eigentlich auf, wie man von einem ziemlich bildungsbürgerlich spießigen Dasein dann letztlich zu einem interkulturell verständigen und harmonischen Menschen gelangen kann. Und das ist so eine Form der rationalen Auseinandersetzung, die wir auch führen und durch solche Romane oder es gibt ja auch viele Filme, wenn ich jetzt an Aus dem Nichts denke oder andere, die jetzt auch prämiert wurden, Gegen die Wand, keine Ahnung, da hat man eben viele Möglichkeiten, so ein interkulturelles Denken anzuregen. Durch solche Texte und Filme kann man sicherlich so einen Diskurs zumindest anregen. Das Latente ist etwas schwieriger, weil man natürlich nicht gezielt Personen aus einem Kurs oder einer Klasse zum Gegenstand, zum Unterrichtsgegenstand, machen kann, sondern da muss man spontan Chancen ergreifen, die sich bieten. Und da ist es eben ein bisschen schwieriger. Man kann das dann eher so auf einer semantischen Ebene versuchen, dass man Bedeutungen versucht gegeneinander mal abzugleichen oder von einzelnen Begriffen oder Wertvorstellungen. Aber das schimmert halt immer so an einzelnen Punkten durch. Man kann auf diese Punkte zusteuern durch gute Texte, durch gute Diskussionen. Aber man weiß nie so genau „Gelingt mir das?“, „Kommt das jetzt hin?“, „Wie verläuft dann letztlich die Diskussion?“ und „Wie tief kommen wir da rein?“, „Wie analytisch können wir diese Debatte führen, ohne dass sie eben in einen Konflikt mündet?“ Denn das soll sie ja nicht, sondern in gegenseitiges Verständnis und das ist ein sensibles und schwieriges Thema, das auch nicht gut didaktisch erschlossen ist, glaube ich.
R: Jetzt haben Sie teilweise auch schon konkrete Beispiele genannt. Haben Sie noch weitere Ideen oder auch Ansprüche, wie das Material gestaltet sein sollte, also das konkrete Arbeitsmaterial?
K: Ja, es gibt eigentlich zwei Möglichkeiten, wie man das gestalten kann. Entweder man provoziert bewusst so einen Wertekonflikt, indem man erst einmal versucht, aufzuschrecken/aufzuwühlen, auch durch einen aktuellen Konflikt. Da ist immer zum Beispiel, ja die Burka- oder Kopftuchdebatte, ist dann ein gutes Beispiel, wo man erst einmal provoziert und dann versucht zu verrationalisieren. Das ist aber eher konfliktorientiert und sehr schwierig, wenn betroffene Schülerinnen dabei sind oder auch Schüler natürlich, die da andere Werthaltungen vertreten. Ergiebiger ist immer der empathische Weg. Dass man versucht, Empathie zu generieren durch Texte aus anderen Kulturen, die man einflechtet oder durch den Textvergleich oder ja durch die Identifikation mit einer literarischen Figur aus einem anderen Kulturkreis, die aber ganz ähnliche Erfahrungen macht wie die Schüler aus der vermeintlich deutschen Kultur. Und insofern ist dieser emphatische Weg wahrscheinlich besser, wenn er natürlich auch immer im Verdacht steht, erzwungenes Verständnis zu fördern. Das heißt, dass man die Schüler quasi zwingt, sich zu identifizieren und sie dann immer noch sagen können „Ja, aber es gibt ja auch die anderen, die konfliktorientiert sind“. Und das kann man auch nie ganz ausräumen. Deswegen glaube ich, dass beide Wege gut sind. Manchmal muss man in Konflikte hineinsteuern, damit es auch mal knallt und manchmal muss man versuchen, sich empathisch hinein zu tasten, um Dinge auch sagen zu können, die sonst vielleicht nicht gesagt würden.
R: Haben Sie auch konkrete Beispiele an Methoden, die man verwenden könnte, um das jetzt konkreter noch zu machen?
K: Ja, also Methoden würden mir jetzt konkret einfallen, dass man versucht zum Beispiel zwei Texte ineinander zu schieben, die ein ähnliches Thema haben. Die also, es gibt ja zum Beispiel, bei Märchen fällt mir das ein, gibt es so Märchen, die es in mehreren Kulturen auf eine ähnliche Art und Weise gibt und dass man die sozusagen ineinanderschiebt. Das heißt, Absätze ausschneidet und sie, die Texte, neu miteinander verklebt, kopiert und die Schüler dann versuchen lässt, diese Texte zu trennen. Dann sehen sie, dass es einerseits durchaus möglich ist, zwei verschiedene Texte aus verschiedenen Kulturen zu kombinieren und es trotzdem vielleicht Sinn ergibt, andererseits aber auch, dass es kulturelle Spezifika gibt, die vielleicht dann doch den Text individuell besonders und erkennbar machen und auch kulturell zuordnen lassen. Das wäre jetzt eine Methode, die mir konkret einfällt, die ich auch schon gemacht habe. Ansonsten sind natürlich Methoden dann in den Diskussionsphasen wie eine Positionslinie oder so etwas interessant, vielleicht auch eine Debatte sowie eine Fishbowl-Diskussion oder so, wo eben so, wie die Schüler es aus Talkshows kennen, dass man eben versucht da auch die Schüler zu drängen, sich zu positionieren, aber andererseits das eben auch nicht unreflektiert zu tun und sich irgendwie ins Benehmen zu setzen. Meist ist es besser, wenn es ein klares Ziel hat und man ein konkretes Ergebnis vorgibt, das es geben muss, damit sie sich eben nicht im Kreis drehen. Und solche Dinge sind produktiv. Das zweite eher für das latente Lernen und das erste eher für das bewusste Lernen.
R: Ja, wunderbar! Sehen Sie denn auch Probleme und Herausforderungen bei der Vermittlung von interkultureller Kompetenz im Deutschunterricht? Und wenn ja, wo?
K: Ja, definitiv, weil es eben schon schwierig ist. Es gibt große Vorbehalte, die es abzubauen gilt und das schafft man nicht immer. Wie gesagt, gerade auf der Ebene des Bewusstseins bleibt immer dieser Vorbehalt „Ja, wir reden jetzt hier über einige, die sich integrieren wollen, aber was ist mit den anderen? Über die haben wir jetzt nicht geredet.“ oder dann reden wir zwar über die. Diese Vorbehalte kann ich nicht abbauen, weil es natürlich auch Leute gibt, die nicht an Interkulturalität interessiert sind, auf beiden Seiten natürlich. Und da gibt es einfach Hürden, die so oft so groß und verfestigt sind aus der eigenen Wahrnehmungswelt. Teilweise kommt es aus den Elternhäusern, teilweise – muss man aber auch ehrlicherweise sagen – aus eigenen Erfahrungen, eigenen schlechten Erfahrungen und die sind zumindestens, wenn man rein auf der rationalen Ebene arbeitet, unüberwindlich manchmal. Da muss man ehrlich sein und wenn man eben auf der empathischen Ebene es versucht, dann gibt es eben die Gefahr, dass man genau das Gegenteil von dem bewirkt, was man eigentlich vorhatte. Man möchte vielleicht sogar über die Empathie-Schiene gehen, erreicht aber genau das Gegenteil, weil es letztlich in einen Konflikt hineinsteuert, der unauflösbar ist. Beispiel ist eigentlich immer der Israel- oder der Palästinenserkonflikt, weil man dann eben das nicht auflösen kann. Die Frage ist zu komplex, aber brennt natürlich allen irgendwie unter den Nägeln, sowohl den muslimischen Schülern, weil sie eben mit den Palästinensern sympathisieren, was aber dann wiederum natürlich gegen den Staat Israel gerichtet ist und andersherum auch mit Vorbehalten von Deutschen gegenüber Juden durchaus zusammengeht. Und dann hat man einen völlig kontraproduktiven Effekt und genau so ist es, wenn man in Konflikte hineinsteuert. Da muss man natürlich auch sehr gut aufpassen und das kann man auch nicht mit jeder Klasse machen. Das heißt, so eine Kultur zu etablieren auf der sich, witzig Kultur, ja dass sich Kulturen auf Augenhöhe begegnen, das finde ich sehr schwierig, weil dazu je nach Schulzweig und Altersstufe natürlich auch ganz viel Vorarbeit nötig ist in der Diskussionskultur allgemein in der Klasse, damit so etwas gelingen kann und nicht einfach in einer bloßen Beschimpfung endet.
R: Alles klar. Ich habe Ihnen einmal ein Zitat mitgebracht. Das ist von Hans Reich und ich lese das Ihnen einfach einmal vor: „So finden sich denn auch unter den Bemühungen um eine Interkulturalisierung immer wieder gutgemeinte Vorschläge, die doch bitteschön auch ‚das Ausländerproblem‘ oder bitteschön auch ‚die Herkunftsländer‘ zum Gegenstand gemacht haben möchten oder dazu auffordern, Texte ‚aus anderen Sprachen und Kulturen‘ mit heranzuziehen. Solange aber nicht erkennbar wird, zu welchen sprachdidaktischen Zwecken das geschehen soll oder welchen Mehrwert eine multikulturelle Arbeit gegenüber einer monokulturellen erbringt, bleiben solche Aufforderungen ziemlich haltlos.“ (Reich, 2000, S. 242) Und jetzt ist meine Frage: Was denken Sie von Zitaten wie diesen?
K: Ja, im Grunde ist es richtig, denn das bloße Gutmenschentum hilft niemandem weiter. Man muss auch die Vorbehalte verstehen, die Menschen einfach gegenüber anderen Kulturen haben. Auch die Ängste, die sind auch teilweise begründet, das muss man ja auch sagen, auch wenn sie irrational sind und deswegen hilft es nicht jemandem Spaghetti für zwei vorzulesen, solange bis er kapiert, dass aus Vorurteilen manchmal Fehler passieren, sondern man muss sich gut überlegen, „Wie gehe ich das an?“. Und da habe ich schon gesagt, dazu gehört einfach ein umfassender pädagogischer Ansatz. Das kann nicht nur der Deutschunterricht, das ist meist auch an den Klassenlehrer, an die Diskussionskultur der Klasse im Generellen und die Gesprächskultur der Klasse im Generellen geknüpft und deswegen kann es nicht nur im Deutschunterricht stattfinden. Und deswegen hilft es auch nichts, wenn wir die ganze Zeit unsere Märchen aus Tausendundeine Nacht machen. Davon verstehen sie noch nicht, wie man sich mit anderen Kulturen auseinandersetzt und wie man auch Wertekonflikte auf eine vernünftige Weise löst. Ich glaube, das ist hier gemeint, dass man eben nicht allein durch den Konsum von ästhetischen Produkten aus anderen Kulturen ein besserer Mensch wird, sondern, dass dahinter ein umfassendes pädagogisches aber auch didaktisches Konzept stehen muss, das eigentlich über den Deutschunterricht hinausreicht. Deswegen sind wir da mit einem Fach auch überfordert. Und es wäre eigentlich eine gute Sache, dass man so etwas mal vielleicht auch in der Landesschulbehörde bewusst mal als nächstes großes Projekt in den Blick nimmt. Denn wir hatten jetzt zwar die Sprachlernklassen und das lief auch alles relativ gut, aber das lag jetzt nicht daran, dass wir so gut interkulturelles Lernen gemacht hätten. Sondern es lag daran, dass wir sehr viele pragmatische und gute Pädagogen an den Schulen haben. Von oben kam da nicht viel didaktisch-pädagogisch und das müsste man eigentlich mal machen, weil es eben nicht in einem Fach stattfinden kann, sondern ein übergreifendes Projekt ist, das auch nicht mit einer Projektwoche „Heute haben wir uns mal alle lieb“ getan ist.
R: Alles klar. Ich habe Ihnen jetzt noch einmal ein Zitat von Wittgenstein mitgebracht. Das lautet: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgen-stein (1918). Logisch-Philosophische Abhandlung (Tractatus), Satz 5.6) Wie stehen Sie zu diesem Zitat?
K: Naja, also einerseits finde ich das Zitat gut, weil es natürlich die Sprache sehr stark in den Mittelpunkt rückt und den Fokus auf die Sprache als Kulturträger richtet und ich ja sehr gerne und gut mit der Sprache arbeite. Deswegen ist mir die Sprache auch ungeheuer wichtig, weil ich finde, man kann da sehr viel dran ablesen. Aber sie definiert trotzdem nicht die Grenzen der Welt des Menschen. Denn viele Menschen haben, obwohl sie Dinge sprachlich nicht artikulieren können, trotzdem eine Ahnung davon, ohne den Begriff dafür zu kennen. Sondern es gibt übergreifende Konzepte, die trotzdem erahnt werden können, ohne dass man sie aussprechen kann. Das ist bei Kindern ziemlich gut zu beobachten. Die wissen eigentlich und verstehen auch so komplexe Konzepte wie Aufklärung eigentlich intuitiv. Der Schritt aus der Bevormundung, das spüren sie auch am eigenen Leib, ohne dass sie den Begriff der Aufklärung darauf anwenden könnten. Aber das Erspüren ist durchaus vorhanden. Da würde ich jetzt so ein bisschen mit Platon argumentieren, dass doch einige Dinge – nicht alle – in uns angelegt sind und daher herausgefragt werden können. Aber es gibt Dinge, die in uns angelegt sind und die man durch gute Techniken ‚herauskitzeln‘ kann.
R: Jetzt habe ich noch eine letzte abschließende Frage, die wieder ein bisschen konkreter ist. Kann interkulturelles Lernen als Brücke zwischen den Teildisziplinen im Deutschunterricht gesehen werden? Also, dass es als Brücke zwischen dem Sprach- und dem Literaturunterricht stattfinden kann?
K: Ja, unbedingt. Es ist zwingend so, dass beide Seiten des Deutschunterrichts eigentlich zum Tragen kommen beim interkulturellen Diskurs. Denn es fängt ja schon damit an, dass ein Text aus einer anderen Kultur immer zuerst sprachlich übersetzt werden muss. Und das ist eigentlich auch ein Aspekt, der noch stärker Gegenstand des Deutschunterrichts werden müsste. Wie übersetzt man Texte? Dabei wird ja immer ganz viel interpretiert, weil einfach Wörter nicht Eins-zu-eins-Zuordnungen sind. Und wenn man das auch in den Köpfen der Schüler noch deutlicher machen könnte, wäre auch viel gewonnen, dass Sprache einfach keine Eins-zu-eins-Zuordnung ist, sondern immer Deutung erfordert. Das könnten wir auch früher machen. Im Moment machen wir es im zwölften Jahrgang. Das kann früher passieren. Das verstehen Schüler schon eher. An kleinen Beispielen natürlich und dann eben ein literarischer Text, der übersetzt wurde, in dem es bestimmte Schüsselwörter gibt, die unterschiedliche Bedeutungen haben. Dann kämen wir auch ganz schnell in Werte-Diskurse hinein. Das wäre sehr produktiv, wenn man sich eben auf Schüsselbegriffe fokussiert. Anders herum erleben wir auch im Rechtschreib-/Grammatikunterricht, dass Sprachlernschüler sehr schnell lernen, Regeln lernen, anwenden können, weil sie einfach sprachlich gut geschult sind. Natürlich ist immer der bildungsbürgerliche Hintergrund der Eltern so ein bisschen ein Kriterium. Denn wir haben auch Sprachlernschüler, die gar nicht alphabetisiert sind, die gar nichts mit Sprache zu tun haben. Muss man auch sagen. Wir erleben auch Schüler, die schon Englisch können, die schon teilweise Italienisch oder irgendetwas anderes können und die deswegen unheimlich schnell Deutsch lernen und den anderen Schülern im Regelwissen deutlich voraus sind, aber dann trotzdem situationsgebunden falsch sprechen oder schreiben. Und diese Synergieeffekte, die vielleicht entstehen, wenn ein Sprachlernschüler und ein Muttersprachler sich zusammentun, die könnte man auch verstärkt nutzen als produktiven Effekt für den Deutschunterricht, wenn es jetzt auch direkt nichts mit Literatur zu tun hat. Aber ich habe ja auch schon gesagt, interkulturelles Lernen kann für mich nicht nur im Deutschunterricht stattfinden. Da sehe ich alle Fächer in der Verantwortung, auch die Literaturwissenschaften, adäquate Fachbegriffe zu finden, die auch nicht-deutsche Schüler verstehen. Und das wäre für mich nicht nur eine Verknüpfung der Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern aller Disziplinen und wie gesagt, ich würde mir wünschen, dass wir, im Moment haben wir Nachhaltigkeit als Label, das wir an den Schulen durchpeitschen, als nächstes wird die Digitalisierung kommen, aber dann wäre ja eigentlich auch vielleicht mal die Interkulturalität dran und die, wie gesagt, darf sich nicht auf einzelne Projekttage erstrecken, sondern das muss in die Curricula der Schulen eingearbeitet werden, dass das systematisch geschieht und nicht bloß, weil im Deutschbuch gerade Spaghetti für zwei steht.
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