John Locke schreibt 1690, dass die Sprache das wichtigste „Werkzeug und das gemeinsame Band der Gesellschaft“ sei. Sprache ist mit einem Schlüssel zu vergleichen – was ist damit gemeint?
Expressive Funktion: Sprache ermöglicht uns, Informationen auszutauschen, Emotionen mitzuteilen, Bedürfnisse auszudrücken, soziale Beziehungen herzustellen und zu pflegen (vgl. Bühler; Jakobson).
Appellative Funktion: „Worte sind auch Taten.“ (Wittgenstein) Wir können mit ihnen zum Handeln auffordern, Meinungen äußern und so Entscheidungen treffen (vgl. Bühler; Jakobson). Außerdem könnnen wir kooperieren und unseren Alltag organisieren. Und: Sprache ermöglicht es uns, zu denken.
Informative Funktion: Mit Sprache erklären wir und überliefern Wissen (vgl. Bühler; Jakobson). Sprache strukturiert unser soziales Leben, schafft sogar Hierarchien und erhält sie aufrecht. Sprache dient der Selbstvergewisserung. Sprache kann Menschen in schwierigen Situationen helfen.
Mit Sprache konstruieren wir Wirklichkeit und verraten, wie wir die Welt sehen. Sprache ist eine Waffe – sie kann verletzen und: Menschen manipulieren. Wie gehen wir damit um?
Konflikte können sprachlich gelöst werden, wenn wir metakommunizieren, d. h. darüber sprechen, wie mir miteinander sprechen.
Sprache hilft uns dabei, uns selbst auszudrücken, uns zu verwirklichen, z. B. künstlerisch.
Sprache lässt sich genießen, denn sie hat auch einen ästehtischen Wert. Was ist unterhaltsamer, geselliger, verbindender als Witz, Wortakrobatik und Sprachspiel?
All das kann Sprache. Deshalb ist Sprache der Schlüssel dazu, menschliches Miteinander zu gestalten. Gerade in der interkultureller Kommunikation ist das sehr wichtig.
In einem Land, dessen Sprache wir nicht beherrschen, können alltägliche Situationen zum Hürdenlauf werden. Der Kontaktaufbau zu anderen Menschen gestaltet sich schwierig. Natürlich ist eine Kommunikation in simplen Alltagssituationen mit Händen und Füßen möglich. Aber sobald die Situation komplex wird, ist auch das problematisch. Wir umgeben uns aus diesen Gründen oft mit Personen, die die gleiche Sprache sprechen wie wir. Sprache zeigt sich hier als verbindendes Element, gleichzeitig grenzt sie uns aber auch von anderen ab. Das hat zur Folge, dass uns Türen verschlossen bleiben – Türen zu den Menschen anderer Kulturen.
Stellen Sie sich einmal vor, jemand würde Ihnen ein Puzzle aus tausend Teilen zuwerfen. Sie würden die tausend Teile natürlich niemals alle so auffangen können, dass das richtige Bild entsteht. So ist es mit der Sprache: Wenn uns jemand etwas erzählt, passiert genau das: Ein Puzzle aus tausend Teilen fliegt uns entgegen… Ein paar Teile können wir fangen, ein paar auflesen und dann zusammenlegen. Auch unserm Gesprächspartner geht es so, wenn er uns zuhört. So kommt es, dass wir immer nur einen Teil dessen verstehen, was der andere sagt und meint. Ebenso gilt, dass wir immer nur teilweise verstanden werden können. Das ist die Puzzle-Metapher der Sprache.
Was kann Sprache? Sprache ist ein ein Magier, ein Musiker – lässt Saiten in uns erklingen. Lässt Saiten in uns verstummen.
Eine andere Metapher, nennen wir sie die Münz-Metapher der Sprache: Sprache ist eine merkwürdige Münze, die ihren Wert im Gebrauch wechselt. Und es ist eine Münze, die, wenn sie nicht im Gebrauch ist, überhaupt keinen Wert hat. Stellen wir uns Folgendes vor: Ein Wort sei eine Münze. Ich gebe ihr den Wert 1 und übergebe sie dir. Wirst du eine 1 sehen, wenn du sie in den Händen hältst? Nicht unbedingt. Es ist möglich, dass du eine 5 siehst. Vielleicht hast du eine 1 von mir erwartet, aber nun eine 5 erhalten. Wie ist das möglich? Du selbst hast den Wert verändert – ohne mein Wissen, ohne mein Zutun. Aber: Nennst du mir den Wert, kann ich dabei helfen, ihn wieder zu verändern – ich kann auch für dich eine 1 daraus machen. Du musst mir aber sagen, was du siehst. So entsteht der Zauber des Dialogs…
Die Sprechblasen-Metapher: Bunt schillernd, wie ein Spiegel stehen und schweben sie vor uns, wenn wir sprechen und zuhören – Sprechblasen, und darin: unsere Worte … Was wir sehen? Unsere Worte; und uns, uns selbst! Der andere schimmert hindurch, die Umwelt schimmert hindurch… und doch sehen wir hauptsächlich unsere Worte – und uns selbst! Wenn sich zwei Sprechblasen berühren, entsteht ein neues Bild; Worte fließen ineinander, unsere Gestalten verweben sich… ein neuer Sinn entsteht. Das ist echter Dialog. Sind wir bereit dazu?
Die Egozentrik der Sprache: Warum sprechen wir miteinander? Weil wir uns selbst ausdrücken möchten. Wir kommunizieren nicht irgendetwas. Wir kommunizieren uns. Uns selbst. Sprache hat außerhalb von sozialer Interaktion/Kommunikation keine Bedeutung. Bedeutung konstituiert sich erst in der sozialen Interaktion, die gleichzeitig eine Konstruktion ist.
Der Sprachkörper: Sprechen ist ein körperlicher Prozess, Vorgang, Akt … etwas Sinnliches. Wir erleben es körperlich, wenn wir sprechen. Deshalb ist Sprache auch nicht nur als ein geistiges Phänomen zu begreifen. Selbst wenn wir leise lesen ist unser Körper aktiv. Sprechen, lesen, zuhören – das sind körperliche Aktivitäten. Geist und Körper lassen sich nicht trennen. Sie gehören zusammen, sind immer beide aktiv.
Sprache und Sprechen sind eingebunden in komplexe Kontexte menschlichen Lebens. Es macht wenig Sinn, Sprache isoliert zu betrachten (wie es die Sprachphilosophie oft getan hat). Der Ton macht die Musik. Sprachlosigkeit. Das Wort ist aufschlussreich. Es gibt keine Schweiglosigkeit.
Biologie
Der chilenische Biologe und Philosoph Humberto Maturana und Bernhard Pörksen (2002, 96) schreiben: „Es wird offenbar, dass Sprache kein Instrument der Informationsübertragung und kein System der Kommunikation darstellt, sondern eine Art und Weise des Zusammenlebens in einem Fluss der Koordination von Verhaltenskoordinationen […].“ Und weiter: „Niemand ist in der Lage, gezielt festzulegen, was in einem anderen Menschen geschieht; niemand vermag ein strukturdeterminiertes System – einen anderen Menschen – instruktiv zu intervenieren und gezielt zu determinieren, wie sich dieses lebende System verhalten wird, wenn man es mit einer bestimmten Einsicht oder Erfahrung konfrontiert.“ (ebd., 120) Diese Aussage dürfte für viele Lehrende Provokation und/oder Schock sein, jedenfalls zu verschiedenen und vielleicht starken Reaktionen in einer Bandbreite von vehementer Ablehnung, irritierter Ratlosigkeit bis hin zu euphorischer Zustimmung führen. Der Neurobiologe und Philosoph Thomas Fuchs (2010, 307) formuliert: „Von früher Kindheit an sedimentieren sich die sozialen Interaktionen und Erfahrungen als Verhaltensentwürfe, affektiv-interaktive Schemata, Körperhaltungen.“ Und weiter: „In jedem Gespräch liegt der Anspruch des Anderen, dass nicht sein tönendes Wort, sondern er selbst in seinen Worten verstanden werde.“ (ebd., 309) Was bedeutet das für unser Thema?
Die Sprache ist das Haus des Seins. Heidegger
Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache. Wittgenstein
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Wittgenstein
Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen. Wittgenstein
Sprache – die Quelle aller Mißverständnisse. Antoine de Saint-Exupéry
Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache, und wir haben sie, um zu sprechen. Fontane
Diejenigen, welche widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, dass nicht jede Sprache jedem verständlich ist. Goethe
Denn die Sprache der Menschen ist ihrem Leben gleich. Seneca
Nehmt eure Sprache ernst! Nietzsche
Es gibt keine größere Illusion als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Elias Canetti
Unsere Sprache ist auch unsere Geschichte. Grimm
Jeder Mensch hat seine eigene Sprache. Novalis
Mit jeder neu gelernten Sprache erwirbst du eine neue Seele. Tschechisches Sprichwort
Sprache ist nicht, Sprache geschieht. Heinz v. Förster
Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann. Arendt
Sprich, damit ich dich sehe. Sokrates
Etwas, worüber man nicht redet, ist gar nicht geschehen. Nur das Wort gibt den Dingen Realität. Wilde
„Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens. […] Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung. Die Sprachen als eine Arbeit des Geistes zu bezeichnen, ist schon darum ein vollkommen richtiger und adäquater Ausdruck, weil sich das Daseyn des Geistes überhaupt nur in Thätigkeit und als solche denken läßt. […] Mit dem Verstehen verhält es sich nicht anders. Es kann in der Seele nichts, als durch eigne Thätigkeit vorhanden seyn, und Verstehen und Sprechen sind nur verschiedenartige Wirkungen der nemlichen Sprachkraft. Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muss derselbe aus der eignen, innren Kraft entwickelt werden; und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende Anregung.“ (Schriften zur Sprachphilosophie, Werke III, Darmstadt 1963, S. 418 f., 430).
Wie brisant Sprachgebrauch sein kann, schildert Ernst von Glasersfeld in dieser Anekdote: „Zum Schluss möchte ich ihnen ein Beispiel geben, das deutlich greifbar macht, wie wichtig der ungehemmte Zugang zu Vorstellungen ist. 1936 war die Olympiade in Berlin. Da wurde nicht nur ein Stadium und ein Olympisches Dorf gebaut, sondern auch ein Theater. Der Freund, bei dem ich zu Besuch war, führte mich am Tag vor der Eröffnung in das Olympische Dorf und schließlich auch zu dem Theater. Da war noch ein Gerüst vor dem Eingang und einige Männer arbeiteten an einem Fries über dem Portal. Mein Freund erklärte, dass man anscheinend zu spät, nämlich erst als die Inschrift fertig war, merkte, dass sie für die regierende Partei nicht annehmbar war. Die Inschrift lautete nämlich „Ein Volk, ein Führer, ein Theater.“ Ernst von Glasersfeld: Zwischen den Sprachen.
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Literatur
Bühler, Karl (1999): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache.
Jakobson, Roman (1992): Semiotik.
Locke, John (1690): An essay concerning human understanding.
Mersch, Dieter (Hrsg.) (1998): Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco bis Derrida.
Wittgenstein, Ludwig (2003): Philosophische Betrachtungen.
Ein Dialog zwischen Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen über den Dialog: http://www.taz.de/!1085369/
BMFSFJ – Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“
Weiterführende Literatur zur Sprachsensibilität
Isselbächer-Giese, Annette/ Witzmann, Cornelia/ Königs, Charlotte/ Besuch, Natascha (2018): Sprachsensibel werden, sprachbildend unterrichten – Unterricht anders denken. In: Trendel, Georg/ Roß, Joachim (Hrsg.): SINUS.NRW: Verständnis fördern – Lernprozesse gestalten. Mathematik und Naturwissenschaften weiterdenken. Münster: Waxmann, 13–31.
Leisen, Josef (2019): Prinzipien im sprachsensiblen Fachunterricht. http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de/prinzipien [02.10.2019].
Trendel, Georg/ Roß, Joachim (2018): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): SINUS.NRW: Verständnis fördern – Lernprozesse gestalten. Mathematik und Naturwissenschaften weiterdenken. Münster: Waxmann, 9–11. https://www.schulentwicklung.nrw.de/sinus/upload/Phase05/Broschuere/SINUS_Gesamt.pdf [02.10.2019].
Woerfel, Till/ Giesau, Marlis (2018). Sprachsensibler Unterricht. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung). https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/de/themenportal/thema/%20sprachsensibler-unterricht/ [04.10.2019].