Der Terminus „Leitkultur“ entstand im Zuge politischer Integrationsdebatten (Novak, 2006, 17). Er wurde im Jahre 1996 von dem Politologen Bassam Tibi* eingeführt. Nach Tibi beruht die europäische Leitkultur auf einer westlich-liberalen Wertvorstellung, welche auf „Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte[n] und Zivilgesellschaft“ beruht (Tibi, 2000, 154). Im Zuge von politischen Auseinandersetzungen über die Zuwanderungspolitik wurde der Begriff immer wieder kritisch diskutiert. Dabei erhielt der Begriff eine immer stärker werdende politische Prägung.
Etymologie des Begriffs
Das Wort „Leitkultur“ setzt sich aus den Bestandteilen „Leit-“ und „-Kultur“ zusammen. Der Wortteil „Leit-“ leitet sich vom Verb „leiten“ ab, das aus dem Althochdeutschen stammt. Es bedeutet „jemanden in eine bestimmte Richtung führen“ oder „etwas lenken“. Im übertragenen Sinne kann es auch „jemanden oder etwas beeinflussen“ oder „bestimmenden Einfluss haben“ bedeuten. Der Wortteil „-Kultur“ leitet sich vom lateinischen Wort „cultura“ ab, das „Bearbeitung“ oder „Pflege“ bedeutet. Im weiteren Sinne bezieht er sich auf die geistige und materielle Entwicklung einer Gesellschaft oder einer Gruppe von Menschen. Die Kombination der beiden Wortteile ergibt somit den Begriff „Leitkultur“, der sich auf eine Kultur bezieht, die eine führende Rolle einnimmt oder eine bestimmende Orientierung vorgibt. Der Begriff „Leitkultur“ wurde Ende der 1990er Jahre im deutschen Sprachgebrauch geprägt. Er wurde häufig im Zusammenhang mit Debatten um Integration, Migration und der Frage nach den Werten und Normen einer Gesellschaft verwendet. Die Diskussion um eine „Leitkultur“ diente dazu, eine gemeinsame Werte- und Normenbasis zu definieren, an der sich Zuwanderer orientieren sollten.
Vom Begriff zum Politikum
In einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ von 1998 wird der Begriff der Leitkultur als direkter Gegensatz zu „multikulturell“ und als Versuch die nationale Identität zu bestimmen von dem CDU Politiker Jörg Schönbohm, verwendet (vgl. ZIELCKE, SZ, 1998). Jörg Schönbohm geht davon aus, dass sich Ausländer/innen sich einer Integration verweigerten und sieht in der Einführung einer Leitkultur eine Unabdingbarkeit um die Werte des deutschen Grundgesetzes schützen zu können (vgl. Kowitz, SZ, 1998).
Im Oktober 2000 griff Friedrich Merz, der damalige Fraktionsführer der CDU, den Begriff auf und forderte Regeln für Einwanderung und Integration und im Zuge dessen auch eine einheitliche „freiheitliche deutsche Leitkultur“ für Deutschland, da nur so Integration funktionieren könne (Merz, Die Welt, 2000). Durch diese wird der Begriff Leitkultur nachhaltig mit einer konservativen Weltanschauung und der entsprechende Migrationspoltik konnotiert (EBD, SZ, 2000). Ebenso wird der Begriff auch als Gegensatz zur Multikultur gedeutet.
Erneuter Aufschwung der Leitkulturdebatte
Durch die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 bekam die Frage der Leitkultur einen neuen Aufwind. So verfasste im Jahr 2017 Thomas de Maizière (damals Bundesinnenminister) einen 10 Punkte – Katalog zur Leitkultur in Deutschland und löste damit eine erneute Debatte aus (de Maizière, Bild am Sonntag, 2017).
Besonders in den stark konservativen bis rechten Lagern fand die Idee einer definierten Leitkultur als Richtlinie für Zuwanderer großen Anklang. So veröffentlichte die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag ein Positionspapier zur „Leitkultur, Identität und Patriotismus“ in welcher z.B. „der Schutz und die Förderung der deutschen Leitkultur als Staatsziel in die Thüringer Verfassung und das Grundgesetz aufzunehmen“ gefordert wird (AfD Fraktion, Positionspapier: Leitkultur, Identität und Patriotismus, 2018).
Eine gesetzliche Regelung bezüglich der Leitkultur konnte sich auf Bundeseben nicht durchsetzen. Allerdings ging der Grundgedanke der Leitkultur in einige Gesetze auf Länderebene ein, wie z.B. in das „Bayrische Integrationsgesetz“ wonach Rundfunkanstalten „einen Beitrag zur Vermittlung der deutschen Sprache und der Leitkultur leisten“ sollen (FAZ, 2019).
Die Debatte um die Leitkultur keimt medial immer wieder auf. So versuchte Philipp Amthor (CDU) durch seinen Aufsatz „In guter Verfassung? Unser Land braucht eine Leitkultur-Debatte“ (vgl. Amthor, 2020, S. 5 ff.) einen erneuten Vorstoß um die Frage der Leitkultur wieder in den Fokus zu rücken.
Kritik an der „Leitkultur“
Bassam Tibi selber bewertet die beiden gesellschaftlichen Debatten über die deutsche Leitkultur (2000-2017) als gescheitert (bpb.de, Tibi, 2017). Er kritisiert, dass sein Begriff „Leitkultur“ ohne Konsens seiner Werke verwendet wird und somit „uninformiert Dinge unterstellt [werden]“(Bpb.de, Tibi, 2017).
Des Weiteren wird die Existenz einer Leitkultur maßgeblich in Frage gestellt und von vielen Politikern grundlegend abgelehnt. Sie fordern lieber eine Verständigung über Werte und Normen, die das Grundgesetz vertreten wie Gleichberechtigung oder Meinungsfreiheit (bpb.de, 2020). Im Zuge dessen äußert sich die Integrationsbeauftrage (Stand: 2017) Aydan Özuguz (SPD): „…denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar […]. Die Verfassungsnormen des Grundgesetzes liefern den Ordnungsrahmen für das Zusammenleben der Bürger […]“ (Özuoguz, Tagesspiegel Causa, 2017).
Schließlich ergibt sich nach den knapp 20 Jahren Debatten über die Leitkultur die Frage über dessen Sinnhaftigkeit. So äußert sich z.B. Ruprecht Polenz (CDU) wie folgt: „Man hätte eigentlich aus all diesen Debatten lernen können, dass sie nicht wirklich zielführend sind. Wir sollten für eine Kultur des Zusammenlebens werben.“ (Polenz, Deutschlandfunk, 2017).
Internationale Perspektive
Auch international flammen zunehmend Diskussionen über die jeweilige Leitkultur auf. So auch in den USA, wo jahrhundertelang Einwanderer sich der bekannten, weißen und protestantisch geprägten Leitkultur anpassen mussten. Gleichwohl erlebt die amerikanische Gesellschaft, durch die zunehmende Einwanderung lateinamerikanischer Bürger, eine strukturelle Veränderung. Durch diese erlebt die bekannte Leitkultur zwangsläufig einen Wandel.
Dieser Wandel wird immer wieder stark debattiert, da sowohl liberale wie auch politisch konservative Politiker ein zunehmendes Interesse an den neuen Einwanderern als politische Kraft, in der zusehend schrumpfenden Wählergemeinschaft haben (vgl. Wergin, Die Welt, 2015).
Ebenso spielt die Debatte über die Leitkultur auch in der katholischen Kirche immer wieder eine wichtige Rolle. So äußerte sich Papst Franziskus: „Wir haben keine christliche Leitkultur, es gibt keine mehr! Wir sind heute nicht mehr die einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird“ (FAZ, 2019). Das Kirchenoberhaupt fordert eine Rückbesinnung der katholischen Kirche und einen barmherzigeren Umgang mit Flüchtlingen als christliche Leitkultur (vgl. Zeit online, 2019).
*Bassam Tibi wurde am 4. April 1944 in Damaskus, Syrien, geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Damaskus und promovierte anschließend in Politikwissenschaften an der Universität Hannover. Tibi ist ein international anerkannter Wissenschaftler und Experte auf dem Gebiet der politischen Islamforschung. Er hat zahlreiche Bücher zu Themen wie europäischer Islam, islamische Kultur und Dialog der Zivilisationen veröffentlicht. Er war Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und ist heute emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen. Tibi ist bekannt für seine kritische Haltung gegenüber dem politischen Islam und setzt sich für einen aufgeklärten und liberalen Islam ein. Seiner Ansicht nach muss sich der Islam an die Werte und Normen demokratischer Gesellschaften anpassen. Sein Werk hat große Aufmerksamkeit erregt, und er wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Darüber hinaus war Tibi als politischer Berater für verschiedene Institutionen und Regierungen tätig und nahm an zahlreichen internationalen Konferenzen teil. Als Gastprofessor lehrte er an mehreren renommierten Universitäten weltweit.
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Literatur
AfD Fraktion im Thüringer Landtag: Positionspapier: Leitkultur, Identität, Patriotismus. Erfurt, 2018
AMTHOR, Philipp: In guter Verfassung? Unser Land braucht eine Leitkultur Debatte, in: Hauptmann, Ralph &. Brinkhaus, Mark: Eine Politik für morgen, Die junge Generation fordert ihr politisches Recht. Freiburg, Herder Verlag, 2020 S. 5-6
KOWITZ: Die Angst vorm Umkippen. In: SZ vom 02.09.1998.
NOWAK, Jürgen: Leitkultur und Parallelgesellschaft – Argumente wider einen deutschen Mythos. Frankfurt a.M., 2006. S. 17
PAUTZ, Hartwig: Die deutsche Leitkultur: Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neo-rassismus und Normalisierungsbemühungen. Stuttgart, 2005.
Tibi, Bassam,: Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. btb. 2000. S. 154
ZIELCKE: Fremde, wenn wir uns begegnen. In: SZ vom 27.06.1998.
Quellenverzeichnis
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2017), Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich?:
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/interviews/DE/2017/05/namensartikel-bild.html
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Bundeszentrale für politische Bildung (2020), Leitkultur: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/161369/leitkultur
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Bundeszentrale für politische Bildung (2017), Leitkultur als Integrationskonzept :https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/255521/leitkultur-als-integrationskonzept-revisited
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Deutschlandfunk (2017), Debatte über Leitkultur:
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2019), „Wir haben keine christliche Leitkultur mehr“: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/papst-franziskus-keine-christliche-leitkultur-mehr-16547259.html
[letzter Zugriff am: 20.08.2020]
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2019), Bayerisches Integrationsgesetz teilweise verfassungswidrig:
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Tagesspiegel Causa (2017), Leitkultur verkommt zum Klischee des Deutschseins: https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/wie-nuetzlich-ist-eine-leitkultur-debatte/leitkultur-verkommt-zum-klischee-des-deutschseins.html
[letzter Zugriff am: 18.08.2020]
Welt (2015), Die neue Leitkultur der USA: https://www.welt.de/print/wams/politik/article137938554/Die-neue-Leitkultur-der-USA.html
[letzter Zugriff am: 20.08.2020]
Zeit online (2019), „Wir haben keine christliche Leitkultur mehr“: https://www.zeit.de/gesellschaft/ausland/2019-12/papst-franziskus-ansprache-katholische-kirche-veraenderungen
[letzter Zugriff am: 20.08.2020]