Die kulturelle Mimikry beschreibt eine partielle, oberflächliche Anpassung von Migrantinnen und Migranten an den ihnen neuen Kulturkreis, um negativen Stigmata und damit verbundenen Gefahren zu entgehen. Dabei werden die ursprünglichen kulturellen Einflüsse nicht aufgegeben, wie es etwa bei der Assimilation der Fall ist, sondern durch die äußere Imitation ‚getarnt‘. (vgl. Albrecht, S. 261)
Homi H. Bhabha* beschreibt diese Adaption als „fast, aber doch nicht ganz dasselbe“ (Bhabha 2000, S. 132). Eine Nachahmung, die doch nie ganz mit dem Nachgeahmten identisch ist, denn als beispielsweise deutsch wird performt, was aus individueller Perspektive als solches gedeutet wird. (vgl. Albrecht, S. 260)
Der Begriff Mimikry (engl. Nachahmung) stammt ursprünglich aus der Biologie und bezeichnet die Eigenschaft mancher Tiere, Merkmale giftiger Tierarten zu imitieren, um sich vor Feinden zu schützen (vgl. Nünning, S. 502). Ein Beispiel dafür ist die Hainschwebfliege, die äußerlich einer Wespe ähnelt. Der Unterschied zur Mimese besteht darin, dass diese eine allgemeine Form der Tarnung beschreibt, die sich ebenso auf die Ähnlichkeit mancher Insekten zu Blättern als auch auf die Farbwechselfähigkeit des Chamäleons beziehen kann.
Ab den 1990er Jahren wurde der Begriff von dem indischen, postkolonialen Theoretiker Homi H. Bhabha kulturtheoretisch aufgegriffen. Am Beispiel der Kolonialzeit konkretisiert er die Wirkmacht der kulturellen Mimikry. Durch das oberflächliche Anpassungsvermögen der Schwarzen Bevölkerung gegenüber ihrer weißen Kolonialherren wird die existenzialistische Auffassung einer Grundverschiedenheit menschlicher Gesellschaften und somit die Vorherrschaft der westlichen Welt infrage gestellt. Gleichzeitig kann aus diesen Bemühungen ein parodistisches Spiegelbild der Herrschenden entstehen, dass den Autoritätsanspruch zusätzlich destabilisiert. Diese verzerrte Adaption entsteht schon automatisch aufgrund der individuell unterschiedlichen Interpretationen kultureller Praktiken.
Im Gegensatz zu dekonstruktivistischen Bemühungen handle es sich bei der kulturellen Mimikry allerdings nicht um einen aktiven Widerstand gegen die Hegemonie. Vielmehr tritt dieser als unintendierter Nebeneffekt der eigentlichen ‚Tarnung‘ auf und kann im Falle einer unbeabsichtigten Karikatur diesen verfehlen. (vgl. Struve, S. 144 –149)
Von viel größerem Interesse für den Kulturtheoretiker ist der ‚dritte Raum‘, welcher durch den mimikritischen Prozess entsteht. Insbesondere bezüglich interkultureller Aushandlungsprozesse sieht Bhabha die Chance einer kulturellen Hybridität. Durch die paradoxale, ambivalente Gleichzeitigkeit von Bezugnahme und Abgrenzung zu den jeweiligen Kulturen würde eine eindeutige kulturelle Identität negiert, wodurch eine gemeinsame Infragestellung, Aushandlung oder Neuformulierung des Kulturverständnisses entstehen kann (vgl. Struve, S. 144).
Die eigentliche (unintendierte) Widerstandskraft der Mimikry besteht also primär in der Infragestellung einer in sich geschlossenen Kultur und erst sekundär in der Destabilisierung daraus abgeleiteter Machtgefälle.
Kulturtheoretisch sind die Mimikry und Mimese/Mimesis teilweise schwer zu unterscheiden. In Anlehnung an die biologische Bedeutung könnte eine kulturelle Mimesis allgemeine, neutral konnotierte Nachahmungspraxis beschreiben. Hingegen ähnelt das mimetische Konzept der feministischen Kulturtheoretikerin Luce Irigaray, welches sie 1974 in Speculum – Spiegel des anderen Geschlechts beschreibt, mehr dem hier beschriebenen Verständnis einer Mimikry, die sich allerdings anders als die kulturelle auf geschlechterspezifische Nachahmung bezieht und aktiv die Dekonstruktion von Machtverhältnissen bezweckt. (vgl. Nünning, S. 502)
Im Allgemeinen können die folgenden Unterschiede identifiziert werden:
Mimikry bezieht sich auf die Fähigkeit, sich anzupassen oder nachzuahmen, um den Erwartungen oder Verhaltensweisen einer bestimmten Kultur zu entsprechen. In einigen Kulturen wird von Individuen erwartet, dass sie bestimmte Verhaltensweisen, Ausdrücke oder Gesten zeigen, um Teil der Gemeinschaft zu sein oder um als höflich oder akzeptabel angesehen zu werden. Mimikry kann als eine Form der sozialen Anpassung betrachtet werden, bei der der Einzelne versucht, sich in die Normen und Erwartungen der Kultur einzufügen. In einigen Fällen kann Mimikry als eine positive Form des Respekts oder der Anerkennung der Kultur angesehen werden, während sie in anderen Fällen als Zeichen der Anbiederung oder des Mangels an Authentizität betrachtet werden kann.
Mimikry bezieht sich auf die Nachahmung oder Darstellung bestimmter kultureller Praktiken, Bräuche oder Traditionen. Dies kann durch künstlerische Ausdrucksformen wie Theater, Tanz oder Musik geschehen, aber auch im Alltag und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Mimesis ermöglicht es den Menschen, sich in die Kultur einzufühlen und durch die Darstellung kultureller Elemente eine Verbindung herzustellen. In einigen Kulturen kann Mimesis als eine Form des kulturellen Ausdrucks und der Identitätsbildung angesehen werden, während sie in anderen Kulturen als Respektlosigkeit oder Aneignung angesehen werden kann, wenn sie nicht angemessen oder respektvoll ausgeübt wird.
*Homi H. Bhabha wurde am 1. November 1949 im indischen Mumbai geboren. Er ist ein bekannter Theoretiker auf dem Gebiet der postkolonialen Studien und ein bedeutender Akademiker in den Bereichen Kulturwissenschaften, Literatur und Kunsttheorie. Bhabha studierte am Elphinstone College der Universität Mumbai. Anschließend erhielt er ein Stipendium für ein Aufbaustudium an der Christ Church University in Oxford, wo er einen Bachelor und einen Master in Englischer Literatur erwarb. Später promovierte er an der Universität Oxford in Englischer Literatur mit einer herausragenden Arbeit über den indischen Schriftsteller Salman Rushdie. Nach seiner Promotion lehrte Bhabha an verschiedenen renommierten Universitäten weltweit, darunter die Universität Genf in der Schweiz und die Universität Chicago in den USA. Darüber hinaus war er Gastprofessor an zahlreichen anderen Institutionen, unter anderem an der Harvard University, der Princeton University und der University of California, Berkeley. Bekannt wurde Bhabha vor allem durch seine bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der postkolonialen Theorie. Er entwickelte das Konzept der „Dritten Räume“ und argumentierte, dass Kultur und Identität in Zwischenräumen entstehen, die von kolonialen und postkolonialen Begegnungen geprägt sind. In seiner bekanntesten Veröffentlichung, dem 1994 erschienenen Buch „The Location of Culture“, untersucht Bhabha die Konstruktion von Identität, Rasse, Macht und Widerstand in postkolonialen Gesellschaften. Neben seiner Arbeit im Bereich der postkolonialen Theorie hat Bhabha auch Beiträge zur feministischen Theorie, zur Literaturwissenschaft und zur Kunsttheorie geleistet. Seine Schriften wurden vielfach ausgezeichnet und haben die Geistes- und Sozialwissenschaften weltweit maßgeblich beeinflusst. Er ist ein gefragter Redner und hat Vorträge und Gastvorlesungen an vielen renommierten Universitäten und Konferenzen gehalten.
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Literatur
Albrecht, Yvonne (2017): Gefühle im Prozess der Migration. Transkulturelle Narrationen zwischen Zugehörigkeit und Distanzierung. Wiesbaden: Springer.
Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.
Nünning, Ansgar (2008): Metzler Lexikon Literatur- Und Kulturtheorie. 4. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler.
Struve, Karen (2013): Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Eineitung in sein Werk. Hrsg. v. Stephan Moebius. Wiesbaden: Springer VS.
Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht geschildert:
Exquisite Dönerbude
Eine Freundin bekam für einen Tag Besuch von einer Studierendengruppe aus Katar, da sie dort ein Auslandssemester absolviert hatte. Die Kataris verlebten ihren einwöchigen Deutschlandaufenthalt im ca. 200 km entfernten Düsseldorf und kamen für einen Tag in die Kleinstadt Lübbecke. Am Abend sollte eigentlich die Rückfahrt erfolgen, doch leider wirkte ein Bahnstreik diesem Vorhaben entgegen, sodass die Gruppe aus Katar die Nacht auf dem Lande verbringen musste. Meine Freundin schlug vor, die dreiköpfige Gruppe könne die Nacht bei ihr verbringen.
Darauf antworteten die Kataris, sie könnten die Nacht auch in dem fußläufig erreichbaren Hotel schlafen, schließlich habe dieses fünf Sterne. Meine Freundin war stark verwundert darüber, dass in ihrer Nachbarschaft neuerdings ein Fünf-Sterne-Hotel zu finden sei, bis ihr schließlich klar wurde, dass die Kataris die nahegelegene Dönerbude als Fünf-Sterne Hotel identifiziert hatten. Der Besitzer des Ladens hatte fünf kleine Sterne über dem Namensschriftzug des Lokals an der doch eher bescheiden anmutenden Außenfassade angebracht.
Falsches Signal
Ein guter Bekannter von mir arbeitet für eine Firma, die Transportsysteme wie beispielsweise Rollbehälter entwickelt und herstellt. Dabei ist er unter anderem auch für den chinesischen Markt verantwortlich. Vor ein paar Jahren unternahm mein Bekannter daher eine Geschäftsreise nach China, um Kunden des Unternehmens zu treffen. Während dieser Reise war auch ein Mittagessen mit den Geschäftspartnern vorgesehen. Die gesamte Gruppe suchte daher mittags ein Restaurant auf.
Im Gegensatz zu allen anderen aß mein Bekannter seinen Teller komplett auf. Alle anderen ließen einen kleinen Rest auf ihrem Teller zurück, was ihn zunächst wunderte, doch er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Obwohl mein Bekannter sehr gesättigt war, wurde ihm ohne Nachfrage ein neuer Teller gebracht. Er aß weiter, da er nicht unhöflich wirken wollte, schaute aber etwas unglücklich in die Runde. Einer der Geschäftspartner, der sich auch ein wenig mit der europäischen Kultur auskannte, sah ihm seine Verzweiflung an und sagte, er könne aufhören zu essen, wenn er satt sei.