Der Begriff Critical Whiteness bezeichnet die differenzierte, reflektierte Auseinandersetzung mit Whiteness als soziale Kategorie und begründet sich sowohl in wissenschaftlichen als auch in politischen Ansätzen. Die wortgetreue deutsche Übersetzung Weißsein hat sich in der Forschung kaum durchgesetzt, da sie den Eindruck erweckt, in erster Linie die Hautfarbe von Menschen zu meinen. Primär sind jedoch Aspekte wie ökonomische, soziale und kulturelle Macht relevant, die mit der gesellschaftlichen Markierung von Menschen als weiß einhergehen (vgl. Tißberger 2017, 16).
Whiteness als Norm – ein Denkfehler
Grundlegend für das Critical-Whiteness-Konzept ist die Annahme, dass weiße Menschen ihre Hautfarbe und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Privilegien als Norm verstehen, während Menschen, die gesellschaftlich als nicht-weiß markiert sind, als fremd wahrgenommen werden. Dieser Prozess des sogenannten Othering* hat zur Folge, dass sich weiße Menschen als Norm etablieren und somit ihren gesellschaftlichen Macht-Status manifestieren, obwohl dies unbegründet ist (vgl. Albrecht 2017, 232). Dieses unterbewusste Denkmuster führt, unabhängig von der Intention, zu rassistischen Denkweisen und kann als Erscheinung von strukturellem Rassismus verstanden werden (vgl. Hyatt 2015).
Die Ursprünge der Critical-Whiteness-Studies
Grundlegend für die Critical-Whiteness-Forschung war die Erkenntnis der Literaturwissenschaftlerin bell hooks (Gloria Jean Watkins)*, dass sich in den USA race immer auf Menschen beziehe, die nicht weiß sind. Demnach werde zwischen ethnisch markierten und nicht-markierten weißen Menschen unterschieden. Mit Blick auf Sklaverei, ‚Rassen‘-Trennung und Rassismus in der US-amerikanischen Geschichte zeigt sich dadurch eine Reproduktion hegemonialer Strukturen, die nicht begründet und nicht zu rechtfertigen sind. Auch in Deutschland sind ähnliche Gesellschaftsstrukturen erkennbar, die eng mit der Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs in Verbindung stehen (vgl. Hyatt 2015).
Die Critical-Whiteness-Studies sind eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen entwickelt wurde, um die soziale Konstruktion von Weißsein und die damit verbundenen Machtstrukturen zu analysieren. Die Wurzeln dieser Forschung liegen vor allem in den USA und sind eng mit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre verbunden.
Die Critical-Whiteness-Studies entstanden als Reaktion auf die Vorherrschaft der weißen Perspektive in Wissenschaft und Gesellschaft. In der Bürgerrechtsbewegung wurde zunehmend die Frage aufgeworfen, wie Rassismus nicht nur die Erfahrungen von Menschen nicht-weißer Hautfarbe prägt, sondern auch die Privilegien und Machtstrukturen, die mit Weißsein einhergehen.
Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Critical-Whiteness-Studies war die Veröffentlichung des Buches „White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack“ der Autorin Peggy McIntosh im Jahr 1988. McIntosh beschrieb darin die unsichtbaren Privilegien, von denen Weiße in der Gesellschaft profitieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieser Artikel führte zu einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Konzept des „white privilege“ und legte den Grundstein für weitere Forschungen auf diesem Gebiet.
In den 1990er Jahren begannen dann feministische und postkoloniale Theoretiker*innen, das Konzept des „white privilege“ weiter zu entwickeln und den Fokus auf die Analyse von Weißsein als soziale Konstruktion zu legen. Sie erkannten, dass Weißsein nicht einfach nur eine neutrale Hautfarbe ist, sondern mit bestimmten Vorstellungen, Normen und Privilegien verknüpft ist. Dies führte zur Entstehung einer eigenen akademischen Disziplin, den Critical-Whiteness-Studies.
Seitdem haben zahlreiche Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen auf diesem Gebiet geforscht und publiziert. Dabei wurden verschiedene Ansätze und Methoden entwickelt, um die Konstruktion von Weißsein und die Auswirkungen von Rassismus zu analysieren. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf der Untersuchung kolonialer und imperialer Machtstrukturen und ihrer Nachwirkungen in westlichen Gesellschaften.
Die Critical-Whiteness-Studies haben auch einen starken Einfluss auf andere wissenschaftliche Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaft und Kulturstudien gehabt. Sie haben dazu beigetragen, das Verständnis von Rassismus und Diskriminierung zu erweitern und das Bewusstsein für weiße Privilegien zu schärfen. Darüber hinaus haben sie neue Perspektiven eröffnet, um Machtverhältnisse zu analysieren und eine gerechtere Gesellschaft anzustreben.
*Othering ist ein soziologischer Begriff, der sich mit der Konstruktion und Wahrnehmung von „Anderen“ in einer Gesellschaft befasst. Dabei wird die Identität unterschiedlicher Gruppen und Individuen geformt, indem Unterschiede betont und als nachteilig oder fremd dargestellt werden. Othering basiert auf der Annahme, dass die eigene Gruppe die Norm ist, während andere Gruppen als „anders“ oder „fremd“ wahrgenommen werden. Dies kann auf verschiedenen Ebenen auftreten, sei es auf individueller, sozialer oder politischer Ebene. Es kann sowohl bewusst als auch unbewusst stattfinden und hat oft die Funktion, eine Hierarchie von Gruppen zu etablieren, wobei die eigene Gruppe als überlegen betrachtet wird.
Othering wird oft durch Stereotypen, Klischees und Vorurteile perpetuiert. Durch diese werden Eigenschaften oder Merkmale zugewiesen, um die eigene Gruppe zu definieren und andere Gruppen von dieser Norm abzugrenzen. Dies kann zu Diskriminierung und Stigmatisierung führen und den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe stärken.
Othering kann auch auf institutionalisierter Ebene stattfinden, durch Gesetze, Politik oder soziale Normen, die bestimmte Gruppen benachteiligen oder ausschließen. Hier kann Othering als Mechanismus der Macht und Kontrolle dienen, um die „Anderen“ zu marginalisieren oder auszuschließen.
Othering kann negative Auswirkungen haben, da es zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit führen kann. Es kann auch zu Vorurteilen und Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Gruppen führen und den sozialen Zusammenhalt schwächen. Ein bewusstes Verständnis von Othering kann dazu beitragen, diese Prozesse zu erkennen und zu hinterfragen. Indem man sich der eigenen Vorurteile und Stereotypen bewusst wird, kann man die Perspektiven anderer Gruppen besser verstehen und Empathie entwickeln. Es ist wichtig, den gegenseitigen Respekt und die Anerkennung der Vielfalt in einer Gesellschaft zu fördern, um den negativen Auswirkungen von Othering entgegenzuwirken und eine inklusive Gesellschaft zu schaffen.
*bell hooks wurde am 9. September 1952 unter dem Namen Gloria Jean Watkins in Hopkinsville, Kentucky, USA, geboren. Sie wählte später den Namen bell hooks als Pseudonym, um an ihre Großmutter bell hooks und an ihre Mutter als Vorbilder zu erinnern. Hooks besuchte die Stanford University, wo sie ihren Bachelor-Abschluss in Englisch abschloss. Anschließend erwarb sie ihren Master-Abschluss in englischer Literatur an der University of Wisconsin-Madison und promovierte später in Literaturwissenschaft an der University of California, Santa Cruz. Ihre Arbeit als Literaturwissenschaftlerin ist von ihrem Engagement für soziale Gerechtigkeit, Feminismus und Rassismus geprägt. Sie ist bekannt für ihre Schriften über die Wechselwirkungen von Gender, Rasse und Klasse sowie für ihre kritischen Analysen der amerikanischen Kultur und Gesellschaft.
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Literatur
Albrecht, Monika (2017): Whiteness. In: Göttsche, Dirk/ Dunker, Axel/ Dürbeck, Gabriele (Hrsg): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler.
Hyatt, Millay (2015): Weißsein als Privileg. https://www.deutschlandfunk.de/critical-whiteness-weisssein-als-privileg.1184.de.html?dram:article_id=315084 [März 2020].
Tißberger, Martina (2017): Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender. Wiesbaden: Springer.
„Was ist Critical Whiteness?“: Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (demokratie-leben.de)
Transkript zum Erklärfilm
Der Begriff Critical Whiteness bezeichnet die reflektierte Auseinandersetzung mit der sozialen Kategorie Whiteness. Whiteness umfasst dabei in erster Linie die ökonomische, soziale und kulturelle Macht von gesellschaftlich als weiß betrachteten Menschen. Grundlegend für Critical-Whiteness ist die Annahme, dass weiße Personen die mit ihrer Hautfarbe einhergehenden Privilegien als Norm verstehen. Nicht-weiße Menschen werden deshalb als fremd wahrgenommen. Die mit dieser Wahrnehmung einhergehende Diskriminierung wird allerdings von den weißen Personen ausgeblendet. Critical Witeness versucht, das unterbewusste Denkmuster von Whiteness aufzubrechen, um rassistische Denkweisen und strukturellen Rassismus abzubauen.
Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht von Benjamin Haag geschildert:
Euphorischer Spaziergang
Mein Vater musste geschäftlich nach Hawaii, wohin ihn meine Mutter begleitete. Die beiden machten einen gemütlichen Strandspaziergang mit dem Ziel, am Ende zu einem besonders schönen Aussichtspunkt zu gelangen. Als sie auf dem Rückweg waren, kam ihnen ein anderes amerikanisches Paar entgegen und fragte sie, ob sich der Aussichtspunkt lohne. Daraufhin entgegneten meine Eltern: „Yes, it’s nice there.“ Die Amerikaner bedankten sich freundlich, gingen ein Stück weiter und drehten nach kurzer Zeit wieder um. Meine Eltern wunderten sich und überlegten, was der Grund für die rasche Umkehr sein könnte. Nach einigem Überlegen kamen sie auf die Idee, dass ihre Aussage „It’s nice there“ für das amerikanische Paar so viel heißen musste wie „Es lohnt sich nicht wirklich“. Meine Eltern hätten wahrscheinlich deutlich euphorischer antworten müssen, z. B: „It’s awesome, a once in a lifetime experience!“ Doch die deutsche Art, etwas auszudrücken, ist bekanntlich eher schlicht und nicht sehr überschwänglich. Durch die Art meiner Eltern deuteten die Amerikaner diese Aussage vermutlich falsch, da es sich eigentlich gelohnt hätte, den Aussichtspunkt zu besuchen.