Critical Incidents sind interkulturelle Missverständnisse, die als Fallstudien menschlicher Verhaltensweisen in der Interaktion kurzer Erzählungen festgehalten werden. Sie bieten introspektive Einblicke in Zusammenhänge der interkulturellen Wahrnehmung, Deutung und Wertung (vgl. Knapp).
Kulturen sind nicht homogen. Menschen handeln nicht trivial. Lösungen lassen sich nicht lehren. (vgl. von Foerster, Heinz; Pörksen, Bernhard (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.)
Dies sind einige unserer Grundannahmen, die unübersehbar konstruktivistisch inspiriert sind. Sie haben weitreichende Konsequenzen für lernpsychologisch vertretbare Unterrichtsdesigns. Kommunikative Kompetenz lässt sich lernen, aber, genauer besehen, nicht lehren. Der autonome Lerner ist ein konsequenter Selbstlerner.
In einer wie niemals zuvor bewegten Welt der Migration verwischen und verlieren sich kulturelle Grenzen. Kulturstandards (Thomas) oder Kulturdimensionen (Hofstede) vermitteln den Eindruck, Kulturen könnten systematisch analysiert und gerastert werden – mit Ergebnissen, die auf eine Homogenität schließen lassen. Dies ist nicht der Fall.
Wir gehen bei unsern Überlegungen jeweils von einer singulären interkulturellen Situation aus. Wir gehen immer vom einzigartigen und in der sozialen Interaktion undurchschaubaren Menschen aus. Dies verlangt nach einer individuellen Lösung, die jeder Einzelne nur für sich selbst entdecken kann. Critical Incidents ermöglichen solches Entdecken.
Critical Incidents sind besonders in der Lehre oder im Training multikultureller Beziehungen beliebt. Spezifischere und gezieltere Maßnahmen führen eher dazu, dass eine kulturelle Verzerrung entsteht. Grund dafür ist, dass Critical Incidents offener sind und die Komplexität realer Situationen beinhalten, in denen sich Personen aus mehr als einer Kultur begegnen. Während die Konzentration auf beobachtbares Verhalten einen großen Vorteil darstellt, ist der erhebliche Zeit- und Arbeitsaufwand für das Sammeln und sinnvolle Kodieren der Vorfälle ein Nachteil (vgl. Pedersen 1995, 1 ff.).
Die Critical-Incident-Methode, in den 40er Jahren in den USA entwickelt, ist ein qualitatives Erhebungsinstrument der empirischen Forschung. Heutzutage wird die Methode in den Bereichen der Medizin, Lehrerausbildung, Flugausbildung, Beratung, Organisationsentwicklung, interkulturellen Forschung und in den Bereichen des interkulturellen Trainings angewendet (vgl. Göbel 2003, 2).
In Bezug zur interkulturellen Forschung können Critical Incidents, das Sammeln von Erlebnissen eines Auslandsaufenthaltes mehrerer Personen, dazu dienen, die Erfahrungen auszuwerten, um die Phasen eines Kulturschocks zu evaluieren.
Die Critical Incident Technique
„[…] Dass also verschiede Welten aufeinander prallen, das macht die interkulturelle Begegnung spannend und spannungsreich. Eine anspruchsvolle Aufgabe, der wir uns aber stellen sollten.“
In der interkulturellen Forschung wird die Critical Incident Technique seit einigen Jahren diskutiert und eingesetzt, eingeleitet durch Untersuchungen von Brislin, Cushner, Cherrie und Yong 1986. Die CIT ermöglicht interkulturelles Lernen mit exemplarischen Fallbeispielen. Die Ursprungsidee: Lernende deuten und analysieren authentische Begebenheiten, um regelhafte Verallgemeinerungen zu finden, die in späterer Anwendung bestätigt oder verworfen werden können. Critical Incidents werden in Verfahren gewonnen, in denen durch die Befragung von Einzelpersonen in Interviews oder Gruppendiskussionen Erzählungen zunächst verschriftlicht und anschließend von muttersprachlichen Experten aus beiden Kulturen analysiert sowie in ihrem kulturellen Zusammenhang kontextualisiert werden. Sie beschreiben folglich Situationen des Aufeinandertreffens zweier Kulturen, die für die Beteiligten kritisch im Sinne von unerwartet und störend verlaufen und eignen sich somit als wissenschaftliche Methode zur empirischen Erforschung interkultureller Kommunikation.
In der Lern- und Lehrpraxis kommen Critical Incidents insbesondere in der Methode des Culture Assimilators zum Einsatz. Diese Trainingsmethode besteht aus einer Sammlung von Incidents, die je nach didaktischer Absicht modifiziert werden können. Bei der Ausarbeitung der Incidents wird im Rahmen dieser Methode eine möglichst ausgeprägte Objektivität der Geschehnisse fokussiert, um Verzerrungen durch subjektive Beschreibungen zu verhindern. Die verschriftlichten Ereignisse ergänzen Fragen mit Multiple Choice-Format, anhand derer die für die interkulturelle Kompetenz relevanten Dimensionen der Kognition, des Affekts sowie der Verhaltensebene und des Transfers erfasst werden. Lerner können die Critical Incidents anhand vorgegebener Antwortmöglichkeiten deuten und ihre Annahmen in einem separaten Lösungsteil überprüfen. Handlungsmotivationen von Teilnehmern anderer Kulturen im situativen Kontext zu verstehen, kann als Ziel des Culture Assimilators verstanden werden. Critical Incidents dienen dabei der Reflexion interkultureller Situationen und fördern eine Sensibilisierung der Lerner. Da als Ziel kultureller Trainings nicht die Anpassung an fremde Kulturen, sondern vielmehr die Sensibilisierung für Fremdes und Eigenes angestrebt werden sollte, wird für die Methode auch der Ausdruck Intercultural Sensitizer genutzt.
Fraglich scheint nun, inwiefern Lernende in den Prozess der Sensibilisierung tatsächlich involviert werden, wenn konkrete Deutungen als Lösungsschlüssel für interkulturelle Situationen alternativlos vorgegeben werden. Die Grundlage der Multiple Choice-Lösungen ist unbekannt und beruht wiederum auf der individuellen Einschätzung des Experten, der als außenstehende Person das kritische Ereignis ausgewertet und kategorisiert hat. Sie unterliegt folglich seiner subjektiven Perspektive. Woran die zwischenmenschliche Interaktion konkret gescheitert ist, kann anhand des Erarbeitungsverfahrens von Critical Incidents nicht beurteilt werden. Vielmehr scheint der Methode eine einseitig kulturelle Betrachtung anzuhaften, die allein auf die Differenzen kultureller Codes zurückgeführt wird. Gleichzeitig können Lernende mit dieser Methode kaum individuell aktiv werden. Sie erfahren die Critical Incidents sowohl in der Betrachtung als auch in der Auswertung aus einer passiven Beobachterrolle, in der individuelle Situationsdeutungen nicht berücksichtig oder hinterfragt werden. Eine Reflexion eigener Generalisierungen, Stereotypisierungen und Kommunikationserwartungen kann nicht erfolgen, da Faktenwissen vermittelt wird, das zunächst von einem geschlossenen Kulturbegriff ausgeht und des Weiteren keine Übertragung auf Handlungsalternativen zulässt.
Das Potenzial der Critical Incidents wird auf diese Weise nicht ausgeschöpft. Es liegt vielmehr in einem Methodenlernen, das Sensibilität fördert, um Kommunikationssituationen selbstständig und individuell bewältigen zu können. Vorteil und Herausforderung der interkulturellen Incidents liegen in der unendlichen Vielfalt an Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten, die anhand authentischer Situationen erarbeitet und allein am sozial, interaktiv und konkret handelnden Menschen orientiert sind.
Critical Incidents bieten für den Einsatz im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe einen idealen Anknüpfungspunkt, um interkulturelle und kommunikative Lehr- und Lerninhalte zu verbinden. Methodisch interpretiert können sie die Aufmerksamkeit auf eigenes und fremdes Verhalten in interkulturellen Kommunikationssituationen lenken und Sensibilität für Deutungs- und Handlungsalternativen schaffen. Critical Incidents können aufgrund ihres authentischen Charakters in der Unterrichtspraxis für Schüler und Lehrer ausgesprochen facettenreich und schüleraktivierend gestaltet werden.
Critical Incidents sollen nicht genutzt werden, um vermeintlich objektive Lösungen für individuelle interkulturelle Situationen zu entwickeln. Durch die Arbeit mit diesem authentischen Material muss daher deutlich werden, dass situationsunabhängig gültige Prinzipien nicht existieren. Vielmehr muss eine multiperspektive Analyse Schüler darin bestärken, dass es nicht nur eine absolute Wahrheit als Schlüssel kritischer interkultureller Momente geben kann. Kommunikationssituationen und ihre Deutung, inter- wie intrakulturell, sind unhintergehbar an die individuelle Sinnkonstruktion ihrer Teilnehmer gebunden. Grundsätzlich bieten sich zahlreiche methodische Möglichkeiten, Unterricht mit Critical Incidents zu gestalten (aktivierende und rezeptive Repräsentationsmethoden, analytische und reflexive Bearbeitungsmethoden). Nachfolgend ein Beispiel für einen Critical Incident:
Paulina in Polen
Klassenfahrt nach Krakau. Paulina, Schülerin der 10. Klasse einer Berliner Schule, ist mit dem Bus auf dem Weg nach Südosten. Sie war noch nie in Polen und freut sich auf eine Woche mit spannendem Programm. Auf ihre Gastfamilie ist sie besonders neugierig.
Aus Gewohnheit nimmt Paulina ihren Teddy mit auf die Reise. Ein Geschenk aus der Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war und auf Reisen von jeher ihr treuster Begleiter. Oftmals ein- und wieder ausgepackt, als Kopfkissen genutzt und auch mal verloren gegangen, aber wiedergefunden, hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Ein Knopf am Teddybauch ist abgesprungen, der Stoff stellenweise durchgewetzt, ein Ohr ist nicht mehr richtig vernäht und hängt lose zur Seite. Vielleicht könnte man den Teddy auch mal in die Waschmaschine stecken…
Die polnische Gastfamilie empfängt Paulina herzlich. Ihre Gastschwester Maria wirkt sehr sympathisch. Das Gästezimmer ist schön, der Teddy wird gleich prominent auf dem Kopfkissen platziert. Aus der Küche duftet`s, der Tisch ist schon reich mit polnischen Spezialitäten gedeckt. Paulina ist angekommen.
Am nächsten Tag erkunden die Berliner Gäste die Stadt: Marienkirche, Tuchhallen und Kazimierz. Krakau hat eine wechselvolle Geschichte. Mit vielen neuen Eindrücken kehrt Paulina am Abend zu ihrer Gastfamilie zurück.
Sie traut ihren Augen nicht, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnet. Was ist mit ihrem Teddy passiert? Offenbar frisch gewaschen und „repariert“ sitzt er auf dem Kopfkissen: drei neue Knöpfe am Bauch, das Ohr frisch vernäht, an etlichen Stellen mit neuem Stoff, der nicht wirklich die Ursprungsfarbe ihres Teddys hat, geflickt. Die Gastmutter Angelika kommt hinzu, sie strahlt und sagt, sie habe den Teddy „gerettet“. Paulina ist geschockt.
Hier geht es zum Überblick aller Lexikonartikel…
Literatur
Den gesamten Aufsatz finden Sie hier: https://www.researchgate.net/publication/351450749_Critical_Incidents_in_der_interkulturellen_Lernpraxis_des_Deutschunterrichts
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/transcript.9783839419250.55/pdf
Agar, Michael (1994): Language Shock. Unterstanding the Culture of Conversation.
Brislin, Richard W.; Cushner, Kenneth; Cherrie, Craig; Yong, Mahealani (1986): Intercultural Interactions. A Practical Guide.
Deppermann, Arnulf: ‚Gesprächskompetenz‘. Probleme und Herausforderungen eines möglichen Begriffs. In: Becker-Mrotzek, Michael; Brünner, Gisela (Hrsg.) (2004): Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz, S. 14-28.
Fiehler, Reinhard: Kann man Kommunikation lernen? Zur Veränderbarkeit von Kommunikationsverhalten durch Kommunikationstraining. In: Brünner, Gisela; Fiehler, Reinhard; Kindt, Walter (Hrsg.) (2002): Methoden und Anwendungsbereiche, S. 18-35.
Flanagan, John C.: The Critical Incident Technique, Psychological Bulletin 2, 1954. In: https:// www.apa.org/pubs/databases/psycinfo/cit-article.pdf, aufgerufen am 23.09.2014.
von Foerster, Heinz; Pörksen, Bernhard (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.
Göbel, Kerstin (2003): Critical Incidents – Aus schwierigen Situationen lernen. Vortrag im Rahmen der Fachtagung Lernnetzwerk Bürgerkompetenz https://www.dipf.de/de/forschung/aktuelle-projekte/pdf/biqua/critical- incidents-aus-schwierigen-situationen-lernen [02.01.2019].
Haag, Benjamin (2014): Paulina in Polen. In: Intercultural Stories. (i.V.)
Haag, Benjamin; Rother, Torsten (2014): Lisa und Yamato – das Eisbergmodell der Kultur. In: http://ed.ted.com/on/frtIMOlK
Heringer, Hans Jürgen (2014): Interkulturelle Kommunikation.
Knapp, Annelie: Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium. Critical Incidents in der Kommunikation an Hochschulen. http://www.mumis- projekt.de/mumis/index.php/ci-methode [03.01.2019].
Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (1997): Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1991. In: http://www.uni-koblenz- landau.de/landau/fb5/bildung-kind-jugend/iku/ressourcen/download/interkulturelle-bildung-und- erziehung-in-der-schule/view, S. 1.
Kultusministerkonferenz (Hrsg.)(2013): Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i. d. F. vom 05.12.2013. In: http://www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/1996/1996_10_25-Interkulturelle- Bildung.pdf, S. 2.
Lepschy, Annette: Lehr- und Lernmethoden zur Entwicklung von Gesprächsfähigkeit. In: Brünner, Gisela; Fiehler, Reinhard; Kindt, Walter (Hrsg.) (2002): Methoden und Anwendungsbereiche, S. 50-71.
Lippmann, Walter (1990): Die öffentliche Meinung.
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Pörksen, Bernhard; Schulz von Thun, Friedmann (2014): Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens.
Quasthoff, Uta (1973): Soziale Vorurteile und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps.
Scollon, Ron; Scollon, Suzanne (1995): Intercultural Communication. A Discourse Approach.
Wowro, Iwona: Stereotype aus linguistischer und didaktischer Sicht. Stereotypisierung in ausgewählten Lehrwerken für DaF, Convivium 2010, S. 303-325.
Trankskript zum Erklärfilm
Die Critical-Incident-Methode ist ein qualitatives Erhebungsinstrument der empirischen Forschung. Heutzutage wird die Methode in der Medizin, Lehrerausbildung, Flugausbildung, Organisationsentwicklung und in der interkulturellen Forschung angewendet. Critical Incidents sind dabei interkulturelle Missverständnisse, die als Fallstudien festgehalten und später ausgewertet werden. Sie bieten Einblicke in die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Wertungsmuster anderer Kulturen und liefern Beispiele für die Diskussion und das Lernen über multikulturelles Bewusstsein.