Führt Selbstdarstellungszwang zu ansteigendem Populismus?
„Jeder Mensch ist ein Künstler“, diese Aussage traf Joseph Beuys Mitte des 20. Jahrhunderts und knüpfte so an Forderungen zur Selbstverwirklichung der 68er-Bewegung an. Individualismus war zum Ziel geworden.
Jetzt, knapp 60 Jahre später, scheint es so, als sei das Motto zu einem gelebten Imperativ geworden, der die Individualisierung krampfhaft erscheinen lässt und immanenter Teil der heutigen Gesellschaft ist. Der Soziologe Alain Ehrenberg leitet aus diesem gesellschaftlichen Trend der Selbstwerdung eine mögliche Erklärung für steigende Burn-Out und Depressionszahlen ab. Der Kult um das kreative Individuum wird verstärkt durch Eigen-Darstellungen in sozialen Netzwerken. Selbstdarstellung, Selbstvergleich und Fremdbewertung erhalten immer größeren Einzug in die Wertevorstellung der Gesellschaft.
Wer heutzutage nicht in den sozialen Medien unterwegs ist, gilt als rückständig – wer mit der Zeit geht, stellt sich einer permanenten 24-Stunden-Bewertung und Darstellung im Netz. Likes werden zum Maßstab und Lebenselixier. Die eigene Identität und der eigene Wert scheinen sich nur in Kooperation mit dem gesellschaftlichen Außen zu entwickeln. Individualität wird zum Wettbewerb, den sich nicht jeder leisten kann. Denn wer nicht Bio isst, oder ohne Strom fährt, wird schnell zum Außenseiter der selbsternannten „Moralelite“. Ergo: Wer es nicht schafft, seine Werte gekonnt in Szene zu setzen, entwickelt schnell Abneigungen gegenüber jenen, die dies ständig und bildreich tun.
Für Wolfgang Ullrich, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, sind das mögliche Erklärungen für den ansteigenden Populismus in der Gesellschaft. „Heute stehen in einer wertethisch orientierten Gesellschaft Menschen, die ihre Werte realisieren, viel besser und strahlender da als Menschen, die das nicht können. Und nun sind die populistischen Strömungen der Gegenwart erste Anzeichen eines Protests derer, die sich von einer selbstgerechten Moralaristokratie schlecht behandelt oder gar unterdrückt fühlen. Solche Proteste liegen umso näher, als ein Handeln, das Kreativitätsansprüchen unterliegt, auf Dauer noch eine weitere Folge hat. Es passiert dann Ähnliches wie in der Kunst. Als diese in der Moderne vor allem originell sein sollte, führte das nicht nur zu Regelbrüchen, sondern auch zu unverständlichen Extremen“. Diese modernen Entwicklungen bringen den gesellschaftlichen Frieden ins Wanken. Deshalb fordert Ullrich: Darstellungsansprüche senken und sich mehr einem sozialen Miteinander zuwenden.
Mehr dazu unter https://www.geo.de/magazine/geo-magazin/18152-rtkl-meinung-unsere-moral-elite-grenzt-viele-aus