Ethnologie

Der Begriff Ethnologie setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern ethnos „Volk“ und logos „Kunde“ zusammen, sodass der Fachbereich bis ins 20. Jahrhundert als Völkerkunde bezeichnet wurde (Fischer 2003, 16).

Die Ethnologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die den Fokus ihrer Forschungsarbeit auf die methodische und theoretische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ethnien legt. Diese wissenschaftliche Betrachtungsweise der Ethnien strebt insbesondere die Schaffung eines Vergleiches an, d. h.: „der ethnologische Diskurs hat auf diese Weise spezifische Modi entwickelt, Grenzen festzulegen, kollektive Identitäten und eindeutige (kulturelle) Zugehörigkeiten zu bestimmen“ (Friese 2007, 190).

Gemeinschaften kollektiver Identität

Für diesen wissenschaftlich reflektierten Erkenntnisprozess ist die Auseinandersetzung mit den einzelnen Ethnien essentiell, wobei es nicht um die Akzentuierung der Individuen geht, sondern um die Repräsentation eines Kollektivs. Mit Kollektiv ist in diesem Kontext eine Ethnie gemeint, die die Existenz einer Gemeinschaft umfasst. „Mitglieder einer ethnischen Gemeinschaft betrachten sich als homogene Gemeinschaft mit kollektiver Identität“ (Broszinsky-Schwabe 2011, 52) und schaffen mit diesem Selbstbewusstsein eine klare Differenzierung zu anderen ethnischen Zusammenschlüssen. Die Gemeinschaften berufen sich auf dieselbe Abstammung, eine gemeinsame Historie, die konventionelle Verbundenheit in der Kultur und dem Lebensstil sowie das individuelle „ethnische Selbstbewusstsein“(Broszinsky-Schwabe 2011, 52).

Diese Parameter ermöglichen dem ethnologischen Fachbereich nicht nur die Möglichkeit einer differenzierten Auseinandersetzung, sondern bieten auch den Vergleich der „eigenen Kultur, auch und gerade dann, wenn das Andere der Konstitution und dem Verständnis des Eigenen dient“ (Friese 2007, 189).

Geschichte hinter der Ethnologie

Die Entstehungsgeschichte der Ethnologie kann auf verschiedene Phasen und Einflüsse zurückgeführt werden. Die Wurzeln der Ethnologie liegen in der europäischen Expansion und Kolonialisierung ab dem 15. Jahrhundert. Die Europäer begannen, andere Kontinente zu entdecken und zu erobern, und trafen dabei auf fremde Kulturen und Völker. Diese Begegnungen weckten das Interesse der Europäer an den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen. Die erste Phase kann im 18. Jahrhundert gesehen werden. Zu dieser Zeit begannen Reisende, Berichte über ihre Begegnungen und Erfahrungen mit fremden Völkern zu veröffentlichen. Diese Berichte waren jedoch oft von Vorurteilen und Stereotypen geprägt, da die Autoren die anderen Kulturen aus der Perspektive der überlegenen europäischen Kultur betrachteten. Diese Phase wird auch als „ethnographische Phase“ bezeichnet, da es darum ging, exotische Völker und Kulturen zu beschreiben und zu katalogisieren. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Ethnologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin. Dabei spielte die Evolutionstheorie von Charles Darwin eine wichtige Rolle. Ethnologen begannen, Kulturen als Ergebnis eines evolutionären Prozesses zu betrachten und Studien über menschliche Verwandtschaftsstrukturen, Sprachen, Rituale und andere kulturelle Merkmale durchzuführen. Diese Phase wird auch als „Völkerkunde“ bezeichnet, da es darum ging, verschiedene Völker zu vergleichen und zu klassifizieren. Im 20. Jahrhundert verlagerte sich der Fokus der Ethnologie von der reinen Beschreibung und Katalogisierung von Kulturen hin zur Analyse ihrer sozialen und kulturellen Strukturen. Einflüsse aus der Soziologie, Psychologie und Linguistik führten zu einer interdisziplinären Ausrichtung der Ethnologie. Ethnologen begannen, Fragen nach dem sozialen Zusammenleben, den religiösen Systemen, der Wirtschaftsstruktur und anderen Aspekten der Kulturen zu stellen.

Heute ist die Ethnologie eine vielfältige Disziplin, die von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden geprägt ist. Ethnologen untersuchen weiterhin das soziale und kulturelle Leben von Menschen auf der ganzen Welt und versuchen, ihre unterschiedlichen Lebensweisen zu verstehen und zu erklären. Dabei steht auch die kritische Reflexion ethischer und politischer Fragen im Mittelpunkt.

Ein breites Forschungsfeld

Aufgrund der Vielfalt an Völkern hat sich dieser Fachbereich in unterschiedliche Subdisziplinen aufgeteilt, da es WissenschaftlerInnen nicht möglich ist, „alle Gegenstände, Probleme und Methoden des Faches“ zu fokussieren (Fischer 2003, 18). Hierbei haben sich zwei wesentliche Schwerpunkte herauskristallisiert: Region und Kultur.

Bei der regionalen Subdisziplin kann der Fokus z. B. auf Kontinente, Teilkontinente oder historisch zusammengehörige Regionen gelegt werden. Der kulturelle Teilbereich beschäftigt sich mit verschiedenen Bereichen wie der Kunst, der Religion und der Wirtschaft. Zudem setzt die Disziplin weitere Schwerpunkte, die sich auf bestimmte Forschungsfragen und Forschungsansätze beziehen, sodass es zu einem breiten Spektrum an potenziellen Subdisziplinen kommt und diese „dabei an Bereiche anderer Disziplinen grenzen oder [sich] überschneiden“ (Fischer 2003, 18 f.).

Die Ethnologie lässt sich in folgende Subdisziplinen unterteilen:

1. Sozialanthropologie: Die Sozialanthropologie beschäftigt sich mit den sozialen Beziehungen und Strukturen in unterschiedlichen Kulturen. Sie untersucht die Organisation von Gesellschaften, die Rolle von Familie und Verwandtschaft, die Bedeutung von Religion und rituellen Praktiken sowie die soziale und politische Organisation von Gruppen und Gemeinschaften.

2. Kulturanthropologie: Die Kulturanthropologie widmet sich der Erforschung der kulturellen Praktiken und Ausdrucksformen von verschiedenen Gruppen. Sie untersucht die kulturellen Artefakte, Traditionen, Mythen und Rituale von Gesellschaften. Dabei stehen kulturelle Veränderungen, kultureller Wandel und kulturelle Identität im Fokus der Forschung.

3. Visuelle Anthropologie: Die visuelle Anthropologie kombiniert Methoden der Ethnographie mit visuellen Medien wie Film, Fotografie und Videografie. Sie nutzt diese Medien, um das kulturelle Leben und die sozialen Praktiken von verschiedenen Gruppen darzustellen und zu analysieren. Dabei spielt die Herstellung von visuellem Material durch die Forscher:innen, aber auch die Analyse von visuellem Material anderer eine zentrale Rolle.

4. Wirtschaftsethnologie: Die Wirtschaftsethnologie befasst sich mit den wirtschaftlichen Aktivitäten und Formen des Ressourcenmanagements von unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften. Sie untersucht die Produktions-, Verteilungs- und Konsumptionspraktiken und die damit zusammenhängenden sozialen und kulturellen Aspekte.

5. Religionsanthropologie: Die Religionsanthropologie erforscht die religiösen Weltvorstellungen, Praktiken und Rituale von verschiedenen Kulturen. Dabei werden sowohl offizielle Religionen als auch Volksreligionen und spirituelle Traditionen untersucht. Die Religionsanthropologie interessiert sich für die Bedeutung von Religion in einer Kultur und ihre Funktion für individuelle und kollektive Identitäten.

6. Politische Anthropologie: Die politische Anthropologie untersucht die politischen Strukturen, Institutionen und Prozesse in unterschiedlichen Gesellschaften. Dabei stehen Machtverhältnisse, politische Organisation, kollektive Identitäten und Konflikte im Fokus der Forschung. Die politische Anthropologie betrachtet die Wechselwirkungen zwischen politischen und sozialen Strukturen und analysiert die politischen Entscheidungsprozesse in verschiedenen Kulturen.

7. Medizinethnologie: Die Medizinethnologie erforscht die unterschiedlichen Heilpraktiken, medizinischen Systeme und Gesundheitskonzepte von verschiedenen Kulturen. Sie untersucht, wie Menschen Krankheit und Gesundheit konzeptualisieren und behandeln. Dabei stehen kulturelle Vorstellungen von Körper und Gesundheit, traditionelle Heilmethoden und biomedizinische Praktiken im Fokus der Forschung.

Diese Subdisziplinen der Ethnologie können je nach Region oder Forschungsschwerpunkt unterschiedliche Bezeichnungen haben und können sich auch überschneiden. Insgesamt bieten sie verschiedene Perspektiven, um die kulturelle Vielfalt und die menschliche Lebensweise auf der ganzen Welt zu erforschen und zu verstehen.

 

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Literatur

Broszinsky-Schwabe, Edith (2011): Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse – Verständigung. Wiesbaden: Springer.

Fischer, Hans (2003): Ethnologie als Wissenschaftliche Disziplin. In: Fischer, Hans/ Beer, Bettina (Hrsg.): Ethnologie. Einführung und Überblick. Berlin: Reimer, 13–31.

Friese, Heidrun (2007): Ethnografische, ethnologische und kulturanthropologische Ansätze. In: Straub, Jürgen/ Weidemann, Arne/ Weidenmann, Doris (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler, 188–200.

Reichmayr, Johannes/ Ottomayer, Klaus (2007): Ethnopsychoanalyse und Tiefenhermeneutik. In: Straub, Jürgen/ Weidemann, Arne/ Weidenmann, Doris (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler, 249–260.

Ethnologie – Staatslexikon (staatslexikon-online.de)

 

Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht von Benjamin Haag geschildert:  

Böse Geister

Als ich zwölf Jahre alt war, machten meine Eltern und ich zwei Wochen Urlaub in Kanada. Es war eine wunderschöne Rundreise, auf der wir die Niagara-Fälle, Toronto, Montreal und den Ontario-See sahen.

Eines Tages liehen wir uns Kanus und paddelten auf einem kleinen Fluss durch eine verwunschen und ursprünglich wirkende Landschaft bis zu einer Lagune, an der es herrlichen puderweißen Sandstrand gab. Dort machten wir eine Pause und ich fing an, traumverloren Muster und Zeichen und meinen Namen in den Sand zu malen.

Als mein Vater das sah, reagierte er tadelnd. Er sagte, ich solle all das wieder wegwischen. „Wieso?“, fragte ich gekränkt, ich wollte meine kleinen Kunstwerke nicht kaputt machen und verstand nicht, warum er das verlangte. Er erklärte mir, dass im Stamm der Baulé, dem er angehört, der Glaube herrsche, dass man nicht willkürlich Spuren hinterlassen soll, wie etwa seinen Namen im Sand oder in der Rinde eines Baums. Denn in solchen Spuren sei ein Teil der eigenen Seele zu finden und ein schlecht gesinntes Wesen aus der Geisterwelt könnte diesen Teil der Seele einfangen und einen so verfluchen. Er sagte, ich könne natürlich tun, was ich wolle, aber er würde mir raten, auf ihn zu hören.

Ich glaubte die Geschichte eigentlich nicht so ganz, aber ein bisschen Angst bekam ich schon. Es endete damit, dass ich meine Kritzeleien alle wieder zuschüttete, ehe wir den Ort verließen.