Buen Vivir

Buen Vivir – das Gute Leben, Sumak Kawsay (Kichwa) oder Suma Qamaña (Aymara), wie es auf verschiedenen Sprachen genannt wird, ist ein alternatives Entwicklungsmodell aus Lateinamerika. Es entstand in Anlehnung an die Postwachstums-Diskussion und beruft sich auf Praktiken und Wissen der indigenen Bevölkerung (vgl. Acosta 2015, 14).

Umdenken

Buen Vivir fordert ein Umdenken des derzeit geltenden Entwicklungsparadigmas hinsichtlich des Verständnisses und der Bedeutung von Entwicklung. Entwicklung wird in diesem Konzept nicht als wirtschaftliches Wachstum verstanden, wie es im kapitalistischen Wirtschaftsmodell der Fall ist, sondern als Weg in Richtung einer kollektiven Zufriedenheit innerhalb der Gesellschaft (vgl. Acosta/ Abarca 2018, 132). Das Buen Vivir misst sich somit nicht an dem guten Leben eines Individuums. Vielmehr steht „das gute Miteinander-Leben von Menschen in einer Gemeinschaft, von verschiedenen Gemeinschaften …“ (Acosta 2016, 1) im Mittelpunkt.

Buen Vivir beinhaltet eine alternative Vorstellung von Entwicklung und Wohlstand. Es betont die Harmonie zwischen Mensch und Natur sowie den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft. Dabei spielen die Werte Gleichheit, Solidarität, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle. Im Gegensatz dazu fördert das derzeitige Entwicklungsparadigma das Streben nach individuellem Reichtum und Wachstum, oft auf Kosten der Umwelt und der sozialen Gerechtigkeit. Es legt den Fokus auf ökonomischen Gewinn, Konsum und das Vorantreiben von technologischen Fortschritten. Buen Vivir basiert auf dem Prinzip des „Guten Lebens“, das die Bedürfnisse der Menschen in Einklang mit den Naturressourcen und den sozialen Bedürfnissen stellt. Es geht davon aus, dass Wohlstand nicht nur durch materiellen Reichtum, sondern auch durch soziale Beziehungen, kulturelle Identität und das Leben im Einklang mit der Natur erreicht wird. Demgegenüber steht das derzeitige Entwicklungsparadigma im Spannungsfeld zwischen ökonomischem Wachstum und den Auswirkungen auf die Umwelt und die soziale Gerechtigkeit. Es basiert auf der Annahme, dass wirtschaftliche Entwicklung und technologischer Fortschritt den Wohlstand und das Wohlergehen der Menschen verbessern können. Diese Vorstellung vernachlässigt jedoch häufig die ökologischen und sozialen Auswirkungen und die Ungleichheiten, die durch eine auf Wachstum ausgerichtete Entwicklung entstehen können.

Buen Vivir fordert daher eine grundlegende Veränderung des Entwicklungsparadigmas. Es schlägt vor, dass Entwicklung nicht nur quantitativ gemessen werden sollte, sondern auch qualitative Aspekte wie Glück, Wohlbefinden und soziale Gerechtigkeit einbezieht. Es betont die Bedeutung eines nachhaltigen Umgangs mit der Natur und den Schutz der Rechte indigener Gemeinschaften. Dadurch soll ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit geschaffen werden. Es zeigt demnach verschiedene Möglichkeiten einer nachhaltigen Lebensweise auf.

Harmonie

Es intendiert eine harmonievolle Beziehung zwischen Gesellschaft sowie Natur und kritisiert die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Pachamama – die Mutter Erde – die den Ursprung des Lebens meint, nimmt in diesem Konzept einen besonderen Stellenwert ein. Dieser Begriff etabliert ein neues Verständnis zur Bedeutsamkeit der Natur in der Politik und ist damit auch in der Klimadebatte von großer Relevanz. Außerdem zielt das Buen Vivir auf eine neue Hegemonie ab, die auf verschiedenen Kulturen aufbaut. Die Anerkennung der Pluralität indigener Gruppen ist ein fundamentaler Bestandteil des Konzepts (vgl. Fatheuer 2011, 21). Sie ist in Bezug auf die Kolonialisierung Lateinamerikas ist von entscheidender Bedeutung, da sie die historischen Ungerechtigkeiten und Missverständnisse im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung in der Region angeht. Die Kolonialisierung Lateinamerikas führte zur Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Gemeinschaften und zur Aushöhlung ihrer sozialen Strukturen, Traditionen und Kulturen. Indigene Völker wurden von den Kolonialherren als minderwertig und primitiv betrachtet und ihr Land wurde ihnen genommen. Die Anerkennung der Pluralität indigener Gruppen bedeutet, die Vielfalt und Unterschiede zwischen den indigenen Gemeinschaften anzuerkennen und ihre Rechte, Kulturen und Traditionen zu respektieren. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um Vergangenheitsbewältigung zu erreichen, die Gerechtigkeit für vergangenes Unrecht sucht und den Weg für eine gerechtere und integrative Gesellschaft ebnen will.

Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas ist äußerst vielfältig und umfasst Hunderte von verschiedenen Ethnien, darunter Maya, Azteken, Inka, Guarani, Mapuche, Yanomami und viele andere. Jede Ethnie hat ihre eigenen Sprachen, Traditionen, Rituale und sozialen Strukturen, die ihre Identität und ihre kollektive Geschichte ausmachen. Das Verständnis für Diversität bedeutet, die unterschiedlichen Bedürfnisse, Sorgen und Interessen der verschiedenen indigenen Gruppen zu berücksichtigen und Programme und politische Maßnahmen zu entwickeln, die auf die spezifischen Situationen und Forderungen jeder Gruppe eingehen.

Darüber hinaus erkennen viele indigene Gemeinschaften einzigartige Konzepte von „Territorium“ an, die nicht mit den westlichen Vorstellungen von Landbesitz und Eigentum übereinstimmen. Für viele indigene Gemeinschaften ist das Land nicht nur ein wirtschaftlicher und materieller Aspekt, sondern es ist auch Teil ihrer kulturellen Identität, ihrer spirituellen Praktiken und ihres sozialen Zusammenhalts.

Die Anerkennung der Pluralität indigener Gruppen ist somit ein wesentlicher Schritt zur Überwindung der historischen Ungerechtigkeiten und zur Förderung von Versöhnung, Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit in Lateinamerika. Es trägt dazu bei, die Achtung der Menschenrechte, die kulturelle Vielfalt und die politische Teilhabe der indigenen Bevölkerung zu fördern und den langen Weg zur Dekolonialisierung und zur Überwindung von kolonialen Denkmustern und Strukturen zu unterstützen.

Verfassung

Das Konzept des Guten Lebens wurde sowohl in Ecuador (2008) als auch in Bolivien (2009) mit in die Verfassung aufgenommen (vgl. Acosta/ Abarca 2018, 132). Beide Staaten sind durch ihre koloniale Vergangenheit geprägt, die sich sowohl in den gesellschaftlichen als auch in den wirtschaftlichen Strukturen widerspiegelt (vgl. Fatheuer 2011, 14). Mit dem Staatsziel, Sumak Kawsay – das Gute Leben – zu erreichen, haben sie sich merklich von dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell distanziert und stattdessen für eine soziale Wirtschaft mit Werten wie Fairness, Gleichheit und Nachhaltigkeit appelliert (vgl. Friant/ Langemore 2015, 65).

Ein weiteres wichtiges Element des Guten Lebens in Bolivien ist das beispielsweise das Prinzip der „Gemeinschaftsgüter“. Dabei geht es darum, dass natürliche Ressourcen und Dienstleistungen, wie z.B. Wasser, Land und Energie, als Gemeinschaftsgüter betrachtet und gemeinschaftlich verwaltet werden sollen. Dies steht im Gegensatz zur Vorstellung des Privatbesitzes und der Kommerzialisierung von Ressourcen.

Die Verfassung Boliviens gibt auch den indigenen Völkern des Landes besondere Rechte und Anerkennung. Die Kultur, die Sprache, das Rechtssystem und die Traditionen der indigenen Völker werden geschützt und gefördert. Dies spiegelt die Anerkennung der indigenen Weisheit und Kenntnisse im Zusammenhang mit dem Guten Leben wider.

Das Konzept des Guten Lebens in Bolivien ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen politischen Instrument geworden. Es hat zur Einführung verschiedener Maßnahmen und Politiken geführt, die darauf abzielen, das Gute Leben zu fördern. Dazu gehören z.B. Programme zur Bekämpfung der Armut, zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen.

Es gibt jedoch auch Kritiker, die argumentieren, dass das Konzept des Guten Lebens in der Praxis nicht ausreichend umgesetzt wird und dass es immer noch erhebliche Herausforderungen gibt, insbesondere im Zusammenhang mit der korrekten Verteilung von Ressourcen und der Stärkung der indigenen Rechte.

 

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Literatur

Acosta, Alberto (2015): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München: oekom.

Acosta, Alberto (2016). Buen Vivir. Die Welt aus der Perspektive des Buen Vivir überdenken. https://rosalux.org.br/de/die-welt-aus-der-perspektive-des-buen-vivir-uberdenken/ [01.04.2020].

Acosta, Alberto/ Abarca, Mateo Martínez (2018): Buen Vivir: An alternative perspective from the peoples of theglobal south to the crisis of capitalist modernity. In: Vishwas, S. (Hrsg.): The Climate Crisis. South African and Global Democratic Eco-Socialist Alternatives: Johannesburg: Wits University Press, 131–146.

Fatheuer, Thomas (2011): Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Schriften zur Ökologie (Bd. 17): Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, 7–30.

Friant, M. Martin Calisto/ Langmore, John (2015): The Buen Vivir: A Policy to Survive the Anthropocene? In: Global Policy 6(1), 64–71.

Lexikon der Nachhaltigkeit | Definitionen | Buen Vivir

 

Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht von Benjamin Haag geschildert:  

Der ewige Gast

Ein deutscher Student, dessen Eltern aus Marokko stammen, lernte im Rahmen seines Studiums einen gleichaltrigen Mann kennen, der aus Japan zum Studieren nach Deutschland gekommen war. Da sie sich gut miteinander verstanden, lud er den japanischen Kommilitonen zum gemeinsamen Fußballspielen mit seinen Freunden und anschließend zum Essen bei sich zu Hause ein. Sie verbrachten einen schönen Tag, aber es wurde spät und am nächsten Tag mussten beide wieder früh aufstehen. Der Japaner schien jedoch nicht gehen zu wollen. Es wurde immer später und er machte noch immer keine Anstalten zu gehen. Da die Zeit schon sehr fortgeschritten war, rang sich der Gastgeber dazu durch, seinem Gast klar zu machen, dass er allmählich gehen solle, da er am nächsten Tag früh aufstehen müsse. Dies war ihm sehr unangenehm. Sie verabschiedeten sich schließlich und der japanische Gast ging nach Hause.

Der Student erfuhr später von einem Freund, dass es bei vielen Japanern üblich sei, dass der Gastgeber den Gästen zu gegebener Zeit signalisiert, dass es Zeit sei, sich zu verabschieden. Bei den meisten Deutschen hingegen gilt es als unhöflich, wenn der Gastgeber das Treffen beendet. In Deutschland ist es eher üblich, dass die Gäste den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sie gehen. Die beiden Studenten hatten also beide darauf gewartet, dass der jeweils andere das Treffen beendet.