Der Begriff ‚Cancel culture‘ (von engl. cancel: stornieren, aufheben) stammt aus Amerika und bezeichnet ursprünglich den kollektiven Ausschluss einer Person oder Organisation aufgrund einer von ihr getätigten beleidigenden oder diskriminierenden Aussage. Die Wurzeln dieses Phänomens liegen in den sozialen Medien, in denen durch den mehrheitlichen Entzug medialer Aufmerksamkeit ‚Cancel Culture‘ betrieben werden kann.
Konstruktives Potenzial
Nach diesem Verständnis könnte der Vorwurf ‚Cancel culture‘ zu betreiben, theoretisch auf eine vorschnelle Diffamierung einer Person hinweisen und zu einer konstruktiven Diskussion führen, in der beispielsweise der Diskriminierungsgehalt einer Äußerung diskutiert wird. Praktisch weicht die Verwendung des Begriffs allerdings oft von seinem eigentlichen konstruktiven Potenzial ab.
Politische Verwendung
De facto wird ‚Cancel culture‘ meist als politischer Kampfbegriff gegen Menschen gebraucht, die ihres Erachtens auf sich wiederholende diskriminierende Inhalte einer (prominenten) Person hinweisen. Ein Beispiel hierfür ist der mediale Protest, den Joanne K. Rowling auf sich zog, weil sie mehrmals durch angeblich transphobe Tweets aufgefallen sein soll (vgl. Schwarz 2020). Es handelt sich also selten um einen Boykott aufgrund eines einmaligen Fehlverhaltens, sondern um die Sichtbarmachung von angeblich wiederholter Diskriminierung. Ob tatsächlich diskriminiert wird, ist freilich immer diskussionswürdig und wird prinzipiell kontrovers gesehen und mitunter erbittert diskutiert.
Snowflake
Die Bezeichnung der ‚Cancel culture‘ wirkt wie ein Synonym des ‚Political Correctness‘-Vorwurfs. Beide Ausdrücke zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen großen Mob imaginieren, der die Meinungsfreiheit zensieren würde (und könne). Denkbares Ziel der Kritisierten könnte aber auch die Relativierung des Diskriminierungsvorwurfs, ohne sich mit der tatsächlichen Kritik auseinandersetzen zu müssen. Die Debatte wird also womöglich schon beendet, bevor sie überhaupt entsteht. Zu diesem Zweck wird den Kritisierenden oftmals Überempfindlichkeit vorgeworfen, wie es sich auch in der abwertenden Bezeichnung ‚Generation Snowflake‘ manifestiert. Die ,Generation Snowflake‘ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren geprägt wurde, um Menschen zu beschreiben, die vermeintlich empfindlicher, emotionaler und weniger widerstandsfähig gegenüber unterschiedlichen Meinungen und Kritik sind. Der Begriff leitet sich von der Analogie her, dass Schneeflocken einzigartig und empfindlich sind.
Diese Generation wird oft als übermäßig sensibel und leicht beleidigt wahrgenommen, die nicht in der Lage sind, mit kontroversen oder unbequemen Themen umzugehen. Es wird auch behauptet, dass sie sich in einer „Schutzblasenmentalität“ befinden, in der sie sich in sichere Räume zurückziehen, um sich vor potenziell schädlichen Ideen oder Meinungen zu schützen.
Die Generation Snowflake wird oft mit dem verstärkten Einsatz von Triggerwarnungen und Safe Spaces in Verbindung gebracht. Triggerwarnungen sind Hinweise, die vor potenziell traumatischen oder belastenden Inhalten warnen sollen, während sichere Räume Orte sind, an denen Personen ohne Angst vor Urteilen oder negativen Meinungen ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken können.
Befürworter der Generation Snowflake argumentieren hingegen, dass sie lediglich ein Ergebnis einer sich verändernden Gesellschaft sind, in der ein größerer Fokus auf das psychische Wohlbefinden und die Akzeptanz von Vielfalt gelegt wird. Sie behaupten, dass diese jungen Menschen sensibler gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sind und sich aktiv für soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Wokeness
Auch der Begriff ‚Wokeness‘ (Erweckung) wird in einer polemischen Übertreibung zur Herabwürdigung der „Snowflakes“ herangezogen. Wokeness ist ein Begriff, der insbesondere in den letzten Jahren immer häufiger verwendet wird und sich auf ein erhöhtes Bewusstsein und eine verstärkte Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, Rassismus, Diskriminierung und Ungleichheit bezieht. Es bezeichnet eine Einstellung, die sich auf das Verständnis und die Anerkennung der verschiedenen sozialen Hierarchien und Machtstrukturen konzentriert und versucht, diese zu hinterfragen und zu bekämpfen.
Es wird davon ausgegangen, dass systemische Ungerechtigkeiten und Diskriminierung in der Gesellschaft existieren und sich in verschiedenen Bereichen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Klassismus und Ableismus manifestieren. Diese Einstellung fordert eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und den damit einhergehenden Vorteilen, sowie eine Reflexion über die eigenen Verhaltensweisen und Denkmuster, die möglicherweise dazu beitragen, diese Strukturen aufrechtzuerhalten.
Die Idee hinter Wokeness ist es, dass Menschen, die sich als „woke“ betrachten, sich bewusst dafür entscheiden, die Augen vor sozialen Problemen und Ungerechtigkeiten in der Welt nicht zu verschließen, sondern aktiv nach Wegen suchen, um positive Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken. Dies kann durch politisches Engagement, Bildung, interkulturellen Dialog, aktive Unterstützung marginalisierter Gruppen oder das Aufzeigen von Ungerechtigkeiten und Diskriminierung geschehen.
Am Begriff Wokeness wird unter anderem kritisiert, dass sie zu einer ‚Cancel Culture‘ führt, bei der Menschen öffentlich diskreditiert und geächtet werden, wenn sie im Widerspruch zu den als „richtig“ definierten Werten und Überzeugungen stehen. Außerdem besteht die Gefahr, dass eine Überidentifizierung mit Opferrollen gefördert wird und zu vermehrter Spaltung und Polarisierung in der Gesellschaft führen kann.
Letter on Justice
Eine weitere Gemeinsamkeit mit der ‚Political Correctness‘ Debatte ergibt sich bezüglich der Kontrahent*innen. Die 150 Unterschriften des 2020 erschienenen A Letter on Justice and Open Debate des Harper’s Magazine, das sich gegen ‚Cancel culture‘ ausspricht, stammen ausnahmslos von prominenten Akteur*innen der Kunst- und Medienbranche. Es handelt sich also um eine privilegierte Gruppe, die bestimmten, insbesondere linken politischen Aktivist*innen und Gruppierungen eine ‚Cancel culture‘ vorwirft. Der Jurist und ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich bewertet den Letter of Justice so:
“Ich habe mich geweigert, den Brief zu unterschreiben, weil Trumpismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus in den vergangenen Jahren einen so freien und bösartigen Einfluss hatten, dass wir den Ausdruck von Wut und Herzschmerz, der endlich gehört wird, ehren und respektieren sollten.” (Schwarzer, 2020)
Hier geht es zum Überblick aller Lexikonartikel…
Literatur
„Beichte deine Sünden – Sprachpolizei“: https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/487/beichte-deine-suenden-6895.html
Harper´s Magazine (2020): A Letter on Justice and Open Debate: https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/
Orzessek, Arno (2020): Aus den Feuilletons. Wenn politische Korrektheit zur Norm wird. In: Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/aus-den-feuilletons-wenn-politische-korrektheit-zur-norm.1059.de.html?dram:article_id=468280
Pilarczyk, Hannah (2020): Debatte über Cancel Culture Viele Gräben, viele Kämpfe. In: Spiegel Online: https://www.spiegel.de/kultur/cancel-culture-viele-graeben-viele-kaempfe-essay-a-60615caf-c115-467e-a2e3-3e3e7bdca606
Pop Culture Dictionary: Cancel Culture. https://www.dictionary.com/e/pop-culture/cancel-culture/
Schmitt, Uwe (2016): Die verhätschelten „Schneeflocken“ und ihre Feinde. https://www.welt.de/vermischtes/article159946299/Die-verhaetschelten-Schneeflocken-und-ihre-Feinde.html
Schwarz, Carolina (2020): Offener Brief gegen „Cancel Culture“: Die Vielfalt im Diskurs. In: Taz: https://taz.de/Offener-Brief-gegen-Cancel-Culture/!5694595/
Schwarzer, Matthias (2020): Dieter Nuhr und die Empörung: Was ist eigentlich “Cancel Culture”? In: RND Redaktionsnetzwerk Deutschland: https://www.rnd.de/medien/cancel-culture-was-ist-das-und-warum-benutzen-dieter-nuhr-und-andere-den-begriff-6CAKQ5TQRJCJFDJ3WIMY4S7GT4.html
Urban Dictionary: snowflake generation. https://www.urbandictionary.com/define.php?term=snowflake%20generation
Cancel Culture • Definition | Gabler Wirtschaftslexikon
Transkript zum Erklärfilm
Der Begriff Cancel Culture meint den kollektiven Ausschluss einer Person oder Organisation aufgrund einer diskriminierenden Aussage oder Handlung. Es handelt sich dabei selten um einen Boykott aufgrund eines einmaligen Fehlverhaltens, sondern um eine Reaktion auf die wiederholte Diskriminierung eine Gruppe von Menschen, beispielsweise aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion. Ob tatsächlich diskriminiert wurde, wird mitunter kontrovers diskutiert. Am häufigsten wird der Begriff Cancel Culture von den kritisierten Personen oder Organisationen selbst genutzt, um dem Kollektiv, das sie ausschließt, eine Zensur der Meinungsfreiheit vorzuwerfen und so den Diskriminierungsvorwurf zu relativieren.
Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch von Benjamin Haag geschildert. Zum Buch:
Vorwort
Lustig, lehrreich, lebensecht – so sind die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden.
Es sind Geschichten, die sich tatsächlich so zugetragen haben in aller Welt. Manche davon sind wirklich zum Lachen – lehrreich sind sie mit Sicherheit alle. Denn wie lernen Menschen? Aus eigener Erfahrung – oder eben aus den Erfahrungen anderer.
Mit Geschichten lassen sich diese Erfahrungen am besten transportieren. Auf diese Weise sind Bildung und Unterhaltung angenehm miteinander verbunden.
Die hier abgedruckten Geschichten wurden mir in den vergangenen 10 Jahren von vielen verschiedenen Menschen an vielen verschiedenen Orten erzählt, oder richtiger: als Text geschickt.
Interkulturelle Kommunikation ist so vielfältig, so vielfarbig und so vielschichtig, dass es im Grunde kein besseres Medium zu ihrer Vermittlung geben kann als Geschichten.
Zum Schluss noch ein praktischer Hinweis: Sie suchen nach einem bestimmen Land, in dem eine Geschichte spielt? Dann hilft Ihnen die Suche ganz einfach mit der Eingabe des Ländernamens (z.B. China, USA, Indien).
Viel Freude beim Lesen!
Benjamin Haag
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Auszug aus dem Buch:
Tsirr, tsirr
Eine Freundin aus Estland erzählte mir von einer Freundin, die mit ihrem Freund in einem arabischen Land (sie wusste leider nicht mehr welches Land) Urlaub gemacht hatte. Auf einem Marktplatz gab es mehrere Vögel und sie beobachteten, wie die Leute die Vögel fütterten. So wollten auch sie die Vögel füttern. Um die Vögel anzulocken, imitierten sie das Vogelzwitschern so, wie es in Estland üblich ist: „Tsirr tsirr oder siuts siuts oder kukuu kukuu“ (im Estnischen wird das „r“ ebenso gerollt wie im Spanischen). Auf einmal bemerkten sie, dass sich die Leute um sie versammelten und anfingen zu lachen. Umso mehr sie das Zwitschern imitierten, desto mehr lachten die Leute. Später fragten sie dann nach und mussten feststellen, dass das estnische Vogelzwitschern dem arabischen Wort für Durchfall sehr ähnlich ist.