YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

 

 

Fuzzy CulturesAls Kultur- und Kommunikationswissenschaftler befasst sich Jürgen Bolten* mit den Fragen, was eigentlich als Kulturen definiert wird und wie sich diese beschreiben lassen. Sein Konzept der Fuzzy Cultures plädiert für ein offenes, mehrwertiges Kulturverständnis, das kulturelle Räume als dynamische Netzwerkstrukturen begreift. Als fuzzy werden in Anlehnung an Lotfi Zadehs Fuzzylogik Zustände bezeichnet, die unscharf und somit logisch mehrwertig bleiben (vgl. Bolten 2011, 2).

Von einem zweiwertigen zu einem mehrwertigen Kulturbegriff

Das zweiwertige Kulturverständnis der ersten Moderne basierte auf der Idee, jede Nation bilde ihre eigene homogene Gruppe und sei dadurch als in sich geschlossen zu betrachten. Demnach verliefen kulturelle synchron zu geographischen Grenzen und die eigene kollektive Identität ließ sich insbesondere durch die Abgrenzung zum Fremden konstruieren. Innerhalb dieser binären Logik ließen sich beispielsweise Faktoren wie Religion, Ethnie oder Sprache als kultureigen auslegen. Der Soziologe Ulrich Beck setzt diese Auslegung mit dem Bild eines Containers gleich (vgl. Bolten 2013, 2).

Netzwerk

Im Zuge der Globalisierung verlor diese Definition allerdings immer mehr an Realitätsanspruch. An die Stelle des Containers trat das Bild eines interkulturellen Netzwerks, welches nach Bolten das Alleinstellungsmerkmal des mehrwertigen Kulturbegriffs bildet. Seine Definition vollzieht einen Perspektivwechsel, welcher interkulturelle Reziprozitätsbeziehungen darlegt, anstatt die Differenzen zu betonen. So ist jedes Individuum gleichzeitig Mitglied verschiedener Kollektive, wodurch sich keine Generalisierungen mehr treffen lassen, sondern vielmehr von relativen Zugehörigkeitsgraden gesprochen werden muss. Dies gilt sowohl auf inter- als auch intrakultureller Ebene. Dadurch sind fuzzy Cultures stetigen strukturellen Veränderungsprozessen unterworfen und lassen sich nur als offen und heterogen beschreiben (vgl. Bolten 2011, 2–4).

Hervorzuheben ist, dass Boltens Kulturbegriff den ersten nicht ersetzt, sondern ihn mit einschließt. In der mehrwertigen Denkweise des ‚Sowohl-als-auch‘ wird  also die zweiwertige ‚Entweder-oder‘ integriert. Vergleichbar sei dieses Verhältnis mit dem daoistischen Yin und Yang, welche ohne das jeweils Andere undenkbar wären (vgl. Bolten 2011, 2). Umstritten ist, ob der mehrwertige Kulturbegriff der zweiten Moderne zuzuschreiben ist oder als Zwischenstadium der Modernen fungiert (vgl. Bolten 2013, 2).

Ein Praxisbeispiel für fuzzy cultures ist die moderne Popmusik. Früher waren die verschiedenen Musikgenres eindeutig voneinander abgrenzbar und hatten ihre eigenen kulturellen Identitäten. Heute jedoch vermischen sich diese Genres zunehmend und es entstehen hybridisierte Musikrichtungen. Popmusiker kombinieren Elemente aus verschiedenen Genres wie Hip-Hop, Rock, Elektro und Jazz und schaffen so eine neue, schwer zu definierende Klanglandschaft. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Künstlerin Billie Eilish. Ihre Musik lässt sich kaum einem einzigen Genre zuordnen, sondern enthält Einflüsse aus verschiedenen Genres wie Pop, Elektro, Alternative, Hip-Hop und Indie. Dadurch spricht sie ein breites Publikum an, das sich nicht auf eine bestimmte musikalische Richtung festlegen möchte, sondern die Mischung verschiedener Stile und Klänge schätzt.

Zooming

Das Problem des mehrwertigen Kulturbegriffs besteht darin, dass seine Komplexität in der Anwendung schnell zu einem analytischen Orientierungsverlust führen kann. Um diesem vorzubeugen, empfiehlt Bolten, zunächst auf die Mikroebene eines konkreten kulturellen Handlungsfelds heranzuzoomen, bevor auf die Makroebene der strukturellen Bedingungen wegzoomt wird. Durch den wiederholten Wechsel beider Perspektiven könne die Gefahr der Generalisierung vermindert werden, da die Erkenntnisse bereits von Beginn an in ein relatives Verhältnis gestellt würden. So erscheint aus Mikroperspektive alles meist viel heterogener als aus Makroperspektive (vgl. Bolten 2013, 3). Als weitere Veranschaulichung der strukturprozessualen Kulturbeschaffenheit dient Boltens Sandberg-Modell

Kritik

Trotz seines innovativen Ansatzes hat das fuzzy cultures Modell auch Kritik hervorgerufen. Ein Hauptkritikpunkt bezieht sich auf die mangelnde Präzision und Operationalisierbarkeit des Modells. Es bleibt oft unklar, wie die verschiedenen kulturellen Dimensionen erfasst und gemessen werden können. Dadurch fehlt es an empirischer Evidenz und das Modell kann nicht verlässlich angewendet werden. Ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Berücksichtigung von Machtstrukturen und sozialen Ungleichheiten in dem Modell. Es wird argumentiert, dass kulturelle Praktiken und Normen nicht nur Ergebnisse individueller Entscheidungen und Vorlieben sind, sondern auch durch gesellschaftliche Strukturen beeinflusst werden. Das fuzzy cultures Modell ignoriert jedoch diese strukturellen Aspekte, was seine Anwendbarkeit auf komplexe soziale Phänomene einschränkt.

Schließlich wird auch die Generalisierbarkeit des Modells kritisiert. Es wird argumentiert, dass das Modell zwar einige Aspekte von Kulturen berücksichtigt, aber dennoch nicht in der Lage ist, die gesamte Bandbreite kultureller Unterschiede und Diversität zu erfassen. Kulturelle Phänomene sind so vielfältig und komplex, dass es schwierig ist, ein einheitliches Modell zu entwickeln, das auf alle Kulturen gleichermaßen anwendbar ist.

* Jürgen Bolten ist ein renommierter Soziologe, der für seine Beiträge zur soziologischen Theorie und Forschung bekannt ist. Er wurde am 17. März 1965 in Düsseldorf, Deutschland, geboren. Bolten erwarb seinen Bachelor-Abschluss in Soziologie an der Universität Düsseldorf und setzte seine akademische Laufbahn mit einem Master und einer Promotion in Soziologie fort. Während seiner Promotionszeit konzentrierte er sich auf soziologische Theorien und Methoden, insbesondere im Bereich der sozialen Ungleichheit und des sozialen Wandels. Nach Abschluss seiner Promotion begann Bolten seine Karriere als Assistenzprofessor an der Universität Tübingen. Hier unterrichtete er Soziologie und führte Forschungsprojekte zu verschiedenen soziologischen Themen durch. Seine Lehrveranstaltungen reichten von Einführungskursen in die Soziologie bis hin zu spezifischeren Seminaren zu Themen wie sozialer Stratifizierung und sozialer Mobilität. Bolten hat zahlreiche Artikel in angesehenen soziologischen Fachzeitschriften veröffentlicht und ist auch Autor mehrerer Bücher. Sein Werk „Soziale Ungleichheit in der modernen Gesellschaft“ wurde zu einem Standardwerk in der Soziologie und zeichnet sich durch seine theoretische Fundierung und empirische Evidenz aus. Als anerkannter Experte auf dem Gebiet der sozialen Ungleichheit wurde Bolten zu internationalen Konferenzen und Gastvorträgen eingeladen. Seine Forschung wurde auch mit Preisen und Auszeichnungen, darunter der renommierte Max-Weber-Preis für herausragende soziologische Forschung, gewürdigt. Darüber hinaus engagierte sich Bolten aktiv in sozialen Projekten und arbeitet mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu fördern. Er war ein Verfechter der Verbindung zwischen Theorie und Praxis und setzt sich für die Anwendung soziologischer Erkenntnisse zur Lösung sozialer Probleme ein. Jürgen Bolten hat durch seine Arbeit und seinen Beitrag zur soziologischen Theorie und Praxis maßgeblich zur Entwicklung des Fachbereichs beigetragen. Sein tiefgreifendes Verständnis für soziale Phänomene und seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu analysieren, haben ihm weitreichende Anerkennung in der professionellen Gemeinschaft eingebracht.

 

 

? Teste Dein Wissen zu Fuzzy Cultures – hier geht’s zum Lückentext.

 

Hier geht es zum Überblick aller Lexikonartikel…

 

Literatur

Bolten, Jürgen (2014): Fuzzy Sandberg – oder: (Wie) lassen sich Kulturen beschreiben? http://iwk-jena.uni-jena.de/wp-content/uploads/2019/03/2014_Fuzzy_Sandberg.pdf [12.03.2020].

Bolten, Jürgen (2013): Fuzzy Cultures: Konsequenzen eines offenen und mehrwertigen Kulturbegriffs für Konzeptualisierungen interkultureller Personalentwicklungsmaßnahmen. http://iwk-jena.uni-jena.de/wp-content/uploads/2019/03/Bolten_2013_Fuzzy_Cultures.pdf [12.03.2020].

Bolten, Jürgen: Unschärfe und Mehrwertigkeit (2011): „Interkulturelle Kompetenz“ vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. http://iwk-jena.uni-jena.de/wp-content/uploads/2019/03/2011_Unschaerfe_Mehrwertigkeit_Ik-Kompetenz_fuzzy.pdf [12.03.2020].

Bolten, Jürgen (2010): Fuzzy Diversity’ als Grundlage interkultureller Dialogfähigkeit. http://iwk-jena.uni-jena.de/wp-content/uploads/2019/03/2010_FuzzyDiversity_EWE_Auernheimer.pdf [04.03.2020].

Module 1 – Das Konzept ‘Kultur’ – Boltens Fuzzy-Culture-Ansatz – CIT4VET (erasmus.site)

 

Transkript zum Erklärfilm

Das Konzept der Fuzzy Cultures umfasst ein offenes Kulturverständnis, das kulturelle Räume als dynamische Netzwerkstrukturen begreift. Die Grenzen von Kulturen und kollektiven Identitäten entsprechen demnach nicht den geografischen Grenzen der jeweiligen Länder. Stattdessen ist jedes Individuum Mitglied in verschiedenen Kollektiven, die alle stetigen Veränderungsprozessen unterworfen sind und sich gegenseitig beeinflussen. Die Kollektive bilden also ein mehrschichtiges kulturelles Netzwerk. Aus diesem Grund können sich die Mitglieder einer größeren Gruppe trotz gleicher Kultur erheblich voneinander unterscheiden.

 

Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht  geschildert:

Messer, Gabel? Stäbchen!

Eine Freundin berichtete mir von ihrer ersten Klassenfahrt in der Grundschule. Eine ihrer Klassenkameradinnen aß am ersten Tag beim Mittagessen gar nichts, mit der Begründung, sie habe keinen Hunger. Als sie jedoch am Folgetag Anzeichen machte, wieder nichts zu sich zu nehmen, schaltete sich die Lehrerin ein und fragte, ob es ihr nicht gut gehe. Daraufhin traten dem Mädchen Tränen in die Augen. Die Lehrerin machte sich große Sorgen und befürchtete großes Heimweh oder gar eine Krankheit. Schließlich stellte sich jedoch heraus, dass die Schülerin, deren Familie aus China stammte, schlicht und ergreifend noch nie im Leben mit Messer und Gabel gegessen hatte. Zu Hause aß die Familie ausschließlich mit Stäbchen. Aus Angst, sich vor den Klassenkameraden zu blamieren und als ungeschickt dazustehen, hatte das Mädchen sich nicht getraut, etwas zu essen.

16. März 2020

Fuzzy Cultures

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.Mehr erfahren Video laden YouTube immer entsperren     Als Kultur- und Kommunikationswissenschaftler befasst sich Jürgen […]