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Erfundene TraditionDer Begriff Erfundene Tradition wurde von den Geschichtswissenschaftlern Eric Hobsbawn und Terence Ranger geprägt. 1983 verwendeten sie ihn erstmalig in ihrem Buch The Invention Of Tradition*

Erfindungen der Moderne

Hobsbawn und Ranger konstatieren, dass viele Traditionen keine uralten Riten seien, sondern sich bei genauer Betrachtung als Erfindungen der Moderne herausstellen: „Hobsbawn unterscheidet erfundene Tradition von Gewohnheit und Brauchtum (custom) auf der einen Seite, Konvention und Routine auf der anderen. Er will nicht behaupten, jede Tradition sei erfunden, denn natürlich werden Gewohnheit und Brauchtum, Konvention und Routine tradiert, sondern wenn er von dem Erfinden von Tradition spricht, so ist dies eine bestimmte Art des Umgangs mit den traditia, indem einem traditum eine bestimmte oder rituelle Funktion zukommt.“ (Dittmann 2004, 61)

Eine erfundene Tradition ist zum Beispiel das „Zauberfest“, eine jährliche Veranstaltung, die in einer kleinen Stadt namens Merseburg stattfindet. Es wurde vor vielen Jahren von einer Gruppe von Einwohnern ins Leben gerufen, um die Magie und Fantasie zu feiern. Die Tradition geht zurück auf eine alte Legende, nach der ein großer Zauberer einst in der Stadt lebte und regelmäßig magische Vorstellungen für die Bewohner veranstaltete. Das Fest findet jedes Jahr im Sommer statt und zieht Besucher aus der ganzen Region an. Die Hauptattraktion ist eine große Parade, bei der kostümierte Teilnehmer verschiedene kreative Zaubertricks vorführen und mit Musik und Tanz begleitet werden. Es gibt auch einen Markt, auf dem Handwerkskunst, magische Artefakte und allerlei Kuriositäten verkauft werden. Obwohl das Zauberfest eigentlich eine erfundene Tradition ist, hat es sich im Laufe der Jahre zu einer echten Institution entwickelt. Die Bewohner der Stadt sind stolz auf ihre einzigartige Tradition und bemühen sich jedes Jahr aufs Neue, das Fest noch magischer und spektakulärer zu gestalten.

Historische Fiktion

Wie kann eine Traditionen erfunden werden? Eine erfundene Tradition wird realisiert, indem ein bestimmter Punkt in der Vergangenheit gewählt wird und Sprache, Gesten sowie Gegenstände so häufig wiederholt werden, „bis man sich nicht mehr vorstellen kann, dass es auch einmal anders war.“ (Mancic 2012, 62) In der Gegenwart wird somit eine Tradition konstruiert und in die Vergangenheit projiziert. Demnach kann auch von einer historischen Fiktion gesprochen werden. Eine historische Funktion bezieht sich auf die Rolle oder Bedeutung, die ein bestimmtes Ereignis, eine Person oder eine Institution in der Vergangenheit hatte. Sie zielt darauf ab, den Beitrag oder die Auswirkungen auf die Geschichte einer bestimmten Zeitperiode oder Gesellschaft zu verstehen. Eine historische Funktion kann auch auf die Art und Weise verweisen, wie etwas in der Vergangenheit funktioniert hat, sei es ein politisches System, eine wirtschaftliche Praxis oder eine soziale Struktur.

Beispielsweise werden schottische Röcke, auch Kilt genannt, für eine uralte Tradition gehalten, sind allerdings tatsächlich eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert. Ähnlich verhält es sich mit dem griechischen Volkstanz Sytraki, der aber erst seit Mitte der 1960er bekannt ist. Die Vuvuzela, welche insbesondere durch die Weltmeisterschaft bekannt wurde und seitdem als südafrikanische Tradition angesehen wird, ist ebenfalls eine Erfindung aus der Moderne. Auch das bayrische Dirndl war in der Vergangenheit kein Festtagsgewand. Es wurde ursprünglich von Dorfmägden getragen, weshalb sich heute Schürzen an den Trachten befinden.

Funktionen

Die erfundenen Traditionen erfüllen drei Funktionen: Sie erzeugen Autorität, schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und prägen das Verhalten. Nach diesen Funktionen lassen sich erfundene Traditionen auch unterteilen:

1. Traditionen, die kollektive Identitäten schaffen:

Dabei handelt es sich beispielsweise um Traditionen wie Feiertage (Weihnachten, Neujahr, Ramadan etc.), Feste, kulinarische Traditionen, Sprache, traditionelle Kleidung sowie Rituale und Zeremonien.

2. Traditionen, die Gesellschaften bilden und Wertstrukturen legitimieren:

Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Formung von Gesellschaften und der Legitimierung von Wertstrukturen. Einige Beispiele für traditionelle Praktiken sind Familientraditionen, religiöse und kulturelle Traditionen, Bildungstraditionen und auch politische Traditionen.

3. Traditionen, die Menschen in soziale Gruppen integrieren

Sie schaffen gemeinsame Identitäten, fördern den Zusammenhalt und ermöglichen es den Mitgliedern, sich mit der Gruppe verbunden zu fühlen. Beispielhaft für diese Traditionen sind Feiertage, gemeinsame Essen, Geschichten und Mythen aber auch die gemeinsame Sprache.

 

*“The Invention of Tradition“ ist ein Buch, das von Eric Hobsbawm und Terence Ranger herausgegeben wurde und im Jahr 1983 veröffentlicht wurde. Das Buch analysiert die Entstehung und Entwicklung von Traditionen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Hobsbawm und Ranger argumentieren, dass viele Traditionen nicht so alt sind, wie sie scheinen, sondern erst vor kurzem oder sogar bewusst erfunden wurden, um eine nationale Identität zu schaffen oder politische und gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Sie untersuchen verschiedene Beispiele für erfundene Traditionen, die entweder von politischen Eliten oder von intellektuellen Zirkeln entwickelt wurden. Das Buch gliedert sich in verschiedene Kapitel, von denen jedes sich mit einem anderen Thema befasst. Zum Beispiel behandelt ein Kapitel tolle Traditionen in Großbritannien, wie die königlichen Feiern und Veranstaltungen, die erst im 19. Jahrhundert eingeführt wurden. Ein weiteres Kapitel untersucht die Entstehung von Sprache und Kultur in Schottland und wie diese zur Schaffung einer nationalen Identität beigetragen hat. Hobsbawm und Ranger argumentieren in „The Invention of Tradition“, dass die erfundenen Traditionen oft mit Macht und Kontrolle zusammenhängen und als Werkzeug verwendet werden, um die Massen zu manipulieren oder bestimmte politische Agenden zu fördern. Sie betonen jedoch auch, dass Traditionen einen wichtigen sozialen Zweck erfüllen können, indem sie einen Zusammenhalt in der Gesellschaft schaffen und eine kollektive Identität fördern.

Insgesamt bietet „The Invention of Tradition“ einen faszinierenden Einblick in die Entstehung und Verbreitung von Traditionen in verschiedenen Kulturen und stellt infrage, wie wir diese Traditionen wahrnehmen und verstehen. Es ist ein wichtiges Buch für diejenigen, die ein tieferes Verständnis dafür entwickeln möchten, wie Traditionen dazu beitragen, eine Gesellschaft zu formen und zu definieren.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch Der edle Wilde – eine schöne Illusion? anführen: https://www.hyperkulturell.de/der-edle-wilde-eine-schoene-illusion/

? Teste Dein Wissen zu Erfundene Tradition – hier geht’s zum Lückentext.

 

Hier geht es zum Überblick aller Lexikonartikel…

 

Literatur

Hobsbawn, Eric/ Ranger, Terence (1983): The Invention Of Tradition. Bambridge: University Press.

Dittmann, Karsten (2004): Tradition und Verfahren: philosophische Untersuchungen zum Zusammenhang von kultureller Überlieferung u. kommunikativer Moralität. Norderstedt: Books on Demand.

Mancic, Emilija (2012): Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext. Tübingen: Francke.

Hobsbawm-1984-Das-Erfinden-von-Traditionen.pdf (agpolpsy.de)

 

Transkript zum Erklärfilm

Erfundene Traditionen sind Traditionen, die entgegen der allgemeinen Überzeugung keine uralten Riten sind, sondern ihren Ursprung in der Moderne haben. Bei einer erfundenen Tradition werden bestimmte Handlungen über einen kurzen Zeitraum sehr häufig wiederholt. So entsteht fälschlicherweise der Eindruck, dass die Tradition schon immer bestand. Das bayrische Dirndl beispielsweise war in der Vergangenheit kein Festtagsgewand, sondern die Kleidung der Dorfmägde. Erfundene Traditionen erfüllen drei Funktionen: Sie schaffen kollektive Identitäten, integrieren Menschen in eine soziale Gruppe und festigen die Werte, Normen und Hierarchien in einer Gesellschaft. Sie geben also Struktur. Dies ist vor allem in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels bedeutsam, also zum Beispiel dann, wenn verschiedene Kulturen aufgrund der Globalisierung miteinander in Kontakt stehen und sich verändern.

 

Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht von Benjamin Haag geschildert:

Königlich

Ich wurde gemeinsam mit Verwandten aus Deutschland zu der Hochzeit meines Freundes nach China eingeladen. Wir haben dort drei Wochen bei den Eltern seiner Frau gelebt und wurden von dem Vater der Braut empfangen, der uns mit einem Taxi zur Wohnung brachte. An der Wohnung angekommen haben wir unser Gepäck in den für uns vorgesehenen Räumen verstaut. Die Mutter kochte und der Vater bat uns schließlich zu Tisch.

Der Tisch war groß, rund und hatte in der Mitte einen Drehteller, auf den die Speisen gestellt wurden. Als nun das Essen auf den Tisch kam, sollten wir sofort anfangen zu essen. Aus Höflichkeit wollten wir auf die Gastgeber warten. Als der Vater das sah, schaute er uns fragend an und deutete uns, dass wir beginnen sollten. Erst als die hungrigen Deutschen mit dem Essen fertig waren, setzen sich Mutter und Vater und aßen das, was wir übriggelassen hatten. Selbst beim Tischabdecken durften wir nicht helfen. Sie rissen uns förmlich die Schüsseln aus der Hand und forderten, dass wir uns vor den Fernseher setzen sollten.

Chinesen sind es nicht gewohnt, dass ein Gast bei der Zubereitung oder beim Aufräumen des Tisches hilft. Der Gast ist König und darf nicht „arbeiten“. Es wird als schick angesehen, wenn die Gäste nach dem Essen so vollgefressen sind, dass sie nichts mehr machen können. Die Eltern wollten uns damit ihre Gastfreundlichkeit zeigen. Bei uns in Deutschland hilft man gerne dem Gastgeber, damit nach dem Essen alle gemütlich zusammensitzen und reden können. Unsere Hilfe war nicht gewollt, wodurch wir uns nicht gut fühlten.

15. Juni 2018

Erfundene Tradition

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