Der Polyzentrismus ist ein vielfältiger Begriff, der in vielen Bereichen eine konkrete Bedeutung und Anwendung findet, z. B. in der interkulturellen Kommunikation und im Marketingmanagement. Ein aktueller Vertreter des Konzepts des Polyzentrismus in der Politikwissenschaft ist Vincent Ostrom*.
Togliatti prägte den Polyzentrismus und forderte damit die Dezentralisierung der kommunistischen Machtausübung nach der Entstalinisierung der Sowjetunion um 1956. Er wandte sich als erster kommunistischer Führer von dem sowjetischen Sozialismusmodell ab und forderte eine polyzentristische Ausrichtung des kommunistischen Systems, also die Dezentralisierung der politischen Führung und somit die Anerkennung der Autonomie der Parteien bzw. die Pluralität der kommunistischen Bewegung. Aus der Perspektive der Politikwissenschaft wird unter dem Polyzentrismus der politische Zustand der damaligen kommunistischen Bewegung gefasst, bei der das ideologische Machtzentrum nicht mehr zentral, sondern von mehreren Zentren organisiert wird.
In interkulturellen Handlungszusammenhängen meint der Polyzentrismus die Anerkennung der Eigenständigkeit von Kulturen, insbesondere von anderen Kulturen als der eigenen. Dabei geht es darum, die Deutung von Handlungszusammenhängen von den eigenen kulturellen Erfahrungen und Einstellungen zu entkoppeln und seine Bewertung somit zu objektivieren. Polyzentrismus zeigt sich also als Gegenteil zum Ethnozentrismus, der die eigene Kultur ins Zentrum stellt und als Bewertungsmaßstab festsetzt.
In der menschlichen Natur liegt allerdings nahe, eigene Fremdbilder zu kreieren. „Fremdbilder, d. h. Wahrnehmungsformen des Anderen, bilden einen zentralen Bestandteil interkultureller Kommunikation“ (Lüsebrink 2016). Die selbst konstruierten Fremdbilder beeinflussen die Erfahrungen, die mit anderen Kulturen gemacht werden. Ein fest konstruiertes oder auch deutlich abweichendes Fremdbild kann kommunikationshemmend wirken.
Der Polyzentrismus kann als ein Begriff für eine offene und vorurteilsfreie Haltung gegenüber anderen Kulturen verstanden werden, die sich von den eigenen Fremdbildern lösen soll.
Der Begriff des Polyzentrismus spielt zunehmend auch im internationalen Unternehmensmarketing eine besondere Rolle. Die Kommunikation zwischen internationalen Unternehmen unterschiedlicher Länder unterliegt einer gewissen Spannung. Diese Unternehmen müssen bei einer Handelsbeziehung einen Spagat zwischen lokaler Kommunikationsarbeit und globalem Kommunikationsmanagement schaffen. In Praxis des PR-Managements von Lies wird genauer aufgeschlüsselt, welche Probleme diese Kommunikationssituation mit sich bringt.
Gerade im Bereich des internationalen Marketings gibt es Unterschiede zwischen einem lokalen oder internationalen Rahmen des Marketings. Je nachdem, welche Märkte erreicht werden sollen, muss das Marketingmanagement angepasst werden, damit die Kernbotschaften auch wie geplant ankommen. In diesem Zusammenhang wird in dem genannten Werk die polyzentristische Strategie genannt, bei der sich die PR-Inhalte und Botschaften der Marketingidee an den Eigenschaften des ‚Gastlandes‘ orientieren sollen. Als gegensätzlich stellt sich die ethnozentristische Strategie dar, mit der das Unternehmen aus ihrem ‚eigenen kulturellen Rahmen‘ argumentiert. Das Ziel dabei ist, nicht mit einem Gastland auf die gleichen Werte zu kommen. Im Vordergrund steht stattdessen der Wille für eine gemeinsame Sache. Die eigenen kulturellen Werte sollen die Zusammenarbeit nicht behindern.
Der Kerngedanke des Polyzentrismus ist, die eigenen Bewertungskriterien von den eigenen kulturspezifischen Werten zu entkoppeln.
Obwohl der Polyzentrismus von einigen als positiv angesehen wird, da er eine dezentralisierte Machtverteilung und eine Vielzahl von Perspektiven ermöglicht, gibt es auch eine Reihe von Kritikpunkten.
Erstens argumentieren Kritiker, dass Polyzentrismus zu einer unklaren Machtstruktur führen kann. Da es mehrere Machtzentren gibt, kann es schwieriger sein, Verantwortlichkeiten festzulegen und politische Entscheidungen zu treffen. Dies kann zu Instabilität und Entscheidungsblockaden führen.
Zweitens wird kritisiert, dass Polyzentrismus zu Ungleichheit und Machtmissbrauch führen kann. Wenn verschiedene Machtzentren autonom agieren, besteht die Gefahr, dass einzelne Institutionen oder Personen ihre Macht missbrauchen und ihre eigene Agenda ohne ausreichende Kontrolle oder Rechenschaftspflicht verfolgen.
Drittens wird argumentiert, dass Polyzentrismus zu ineffizienten Entscheidungsprozessen führen kann. Da verschiedene Machtzentren unterschiedliche Interessen und Prioritäten haben können, ist es schwierig, Kompromisse zu finden und Entscheidungen zu treffen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Polyzentrismus zu Fragmentierung führen kann, sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch auf globaler Ebene. Die Existenz mehrerer Machtzentren kann es erschweren, gemeinsame Ziele und Interessen zu identifizieren und zu verfolgen. Dies kann zu Konflikten und Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen führen. Schließlich besteht die Sorge, dass der Polyzentrismus zu einem Mangel an koordinierten globalen Lösungen für globale Probleme führen könnte. Wenn jeder Akteur auf der Weltbühne seine eigenen Interessen verfolgt, könnte es schwierig werden, globale Herausforderungen wie den Klimawandel oder den Terrorismus wirksam anzugehen.
*Vincent Ostrom wurde am 25. September 1919 in Los Angeles, Kalifornien, geboren. Er war ein renommierter amerikanischer Politikwissenschaftler und gilt als einer der Pioniere der Theorie der politischen Ökonomie und der Dezentralisierung von Regierungseinfluss. Ostrom erwarb 1948 an der University of California, Los Angeles (UCLA) einen Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaft. Anschließend promovierte er 1950 an der UCLA in Politikwissenschaft und erhielt ein Fulbright-Stipendium, mit dem er nach Schweden ging. Dort arbeitete er mit dem renommierten Ökonomen Gunnar Myrdal am Institut für Sozialforschung in Stockholm zusammen. Diese Zusammenarbeit trug wesentlich zur Entwicklung von Ostroms politischem Denken und seiner späteren Arbeit bei. 1958 gründete Ostrom zusammen mit seiner Frau Elinor Ostrom den Workshop in Political Theory and Policy Analysis am Department of Political Science der Indiana University. Der Workshop entwickelte sich zu einem international anerkannten Zentrum für Politik- und Regierungsforschung und hatte großen Einfluss auf die politische Theorie und die Politikwissenschaft insgesamt.
Vincent Ostroms Arbeit konzentrierte sich auf die Analyse kollektiven Handelns, insbesondere auf die Frage, wie kollektive Entscheidungsfindung organisiert und gesteuert werden kann. Er entwickelte die Idee des „polyzentrischen Regierens“, bei dem verschiedene Regierungsebenen und Institutionen in einem Netzwerk von Entscheidungsprozessen zusammenarbeiten, um öffentliche Probleme effizient zu lösen. Ostrom hat die politische und wissenschaftliche Gemeinschaft maßgeblich beeinflusst. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel veröffentlicht, darunter „The Political Theory of a Compound Republic: Designing the American Experiment“ (1987) und „The Meaning of American Federalism: Constituting a Self-Governing Society“ (1991). Für seine Arbeiten erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1997 den Johan Skytte Prize in Political Science.
Vincent Ostrom starb am 29. Juni 2012 in Bloomington, Indiana. Seine Arbeit wird weiterhin von politischen Theoretikern und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt geschätzt und sein Einfluss auf das Verständnis von Governance und Politik ist nachhaltig. Sein Vermächtnis und sein Beitrag zur Politikwissenschaft werden auch in Zukunft von großer Bedeutung sein.
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Literatur
Holz, Hans Heino (1972): Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus. München: Hanser.
Lies, Jan (Hrsg.) (2015): Praxis des PR-Managements. Strategien – Instrumente – Anwendung. Wiesbaden: Springer Gabler.
Lüsebrink, Hans-Jürgen (2016): Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart: J. B. Metzler.
Neubert, Harald (2009): Linie Gramsci – Togliatti – Longo – Berlinguer. Erneuerung oder Revisionismus in der kommunistischen Bewegung. Hamburg: VSA.
Schönhuth, Michael: Das Kulturglossar. http://www.kulturglossar.de/html/p-begriffe.html#polyzentrismus https://educalingo.com/de/dic-de/polyzentrismus [09.02.2019].
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Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch von Benjamin Haag geschildert:
Madagassischer Gruß
Ich verbrachte als Freiwilliger ein Jahr in einem madagassischen Dorf namens Ambanja, wo ich an einer Grundschule unterrichtete. Eines Samstagnachmittags, schon gegen frühen Abend, fuhr ich mit dem Fahrrad durch Ambanja, als mir ein madagassischer Arbeitskollege aus der Schule entgegen kam. Er schaute mich an, kurz blitzte in seinen Augen Erkennen auf, aber dann sah er wieder weg. Ich grüßte ihn freundlich, woraufhin er auch zögerlich zurückgrüßte. Die Dorfbewohner, die die Situation beobachteten, schauten merkwürdig.
Am darauffolgenden Montag in der Schule kam er auf mich zu und bedankte sich überschwänglich dafür, dass ich ihn am Samstag gegrüßt hatte. Ich verstand die Situation nicht, schon öfters waren wir uns außerhalb der Schule begegnet und hatten uns gegrüßt. Er erklärte mir, dass er gerade von seinem Stück Land außerhalb des Dorfes kam, wo er den ganzen Tag über Reis und Früchte geerntet hatte. Die Leute im Dorf würden einen nach einem so arbeitsreichen Tag auf dem Land nicht grüßen, da man schmutzig sei. Erst nachdem man sich gewaschen und umgezogen habe, könne man sich wieder frei und ohne Scham im Dorf bewegen und würde wieder anerkannt. Schließlich verstand ich seine zögerliche Reaktion und die Blicke der anderen Dorfbewohner.