Eristische Dialektik – Die Kunst, Recht zu behalten : Arthur Schopenhauer war ein deutscher Philosoph und Hochschullehrer. Als Sohn einer Kaufmannsfamilie wurde er 1788 in Danzig geboren. In den Jahren 1803/1804 machte Schopenhauer eine Bildungsreise durch Europa. Danach studierte er Medizin in Göttingen und anschließend Philosophie in Berlin. Im Fach Philosophie erlangte Schopenhauer 1813 auch seinen Doktortitel. 1819 erschien sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Ein Jahr später begann er eine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität. Aufgrund einer Epidemie floh Schopenhauer 1831 nach Frankfurt am Main, wo er 1860 verstarb.
Eristische Dialektik – Die Kunst, Recht zu behalten
„Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas (mit Recht und mit Unrecht).“ (Schopenhauer 2019, 10)
Arthur Schopenhauer beschreibt die „natürliche[] Schlechtigkeit“ (ebd., 10), die „angeborne Eitelkeit“ (ebd., 10 f.) sowie die „Geschwätzigkeit“ (ebd., 11) als wesentliche Eigenschaften des Menschen und gleichzeitig als Ursachen für die Notwendigkeit der Eristischen Dialektik. Ersteres bedeutet, dass Menschen nicht von Grund auf ehrlich sind und nicht lediglich die Wahrheit sagen. Die Eitelkeit zielt darauf ab, dass wir nicht Unrecht haben wollen und unser Gesprächspartner nicht Recht haben soll. Schließlich meint die Geschwätzigkeit, dass Menschen erst reden und dann nachdenken (vgl. Schopenhauer 2019).
Doch was bedeutet Eristische Dialektik eigentlich? Wie im oben angeführten Zitat schon deutlich wurde, geht es in der Eristischen Dialektik darum, beim Diskutieren Recht zu behalten und zwar per fas, also auf erlaubte Weise, und per nefas, d. h. auf unerlaubte Weise. Auf erlaubte Weise bedeutet, die Wahrheit zu sagen, auf unerlaubte Weise hingegen, nicht die Wahrheit zu sagen. Bemerken wir hinterher, dass wir Unrecht hatten, sollen wir es so wirken lassen, als hätten wir Recht (vgl. Schopenhauer 2019): „wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen“ (Schopenhauer 2019, 11).
Eine Behauptung kann einerseits bezüglich ihrer objektiven Wahrheit und andererseits hinsichtlich ihrer Gültigkeit beim Gesprächspartner betrachtet werden. Bei der Eristischen Dialektik kommt es nicht auf die Richtigkeit der Aussage an, sondern darauf, ob wir sie dementsprechend verteidigen können und sie vom Gesprächspartner auch als richtig hingenommen wird. „Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft“ (Schopenhauer 2019, 12). Das Interesse für Wahrheit weicht dem Interesse für Eitelkeit (vgl. Schopenhauer 2019).
Die Eristische Dialektik ist von der Logik, also der reinen objektiven Wahrheit sowie von der Sophistik, der Durchsetzung falscher Aussagen, abzugrenzen, weil sowohl Logik als auch Sophistik voraussetzen, dass wir die Wahrheit kennen. Da wir nach Schopenhauer aber nicht wissen, was die Wahrheit ist, können wir diese im Disput außer Acht lassen. Somit kann die Eristische Dialektik vielmehr als „Logik des Scheins“ (Schopenhauer 2019, 20) betrachtet werden (vgl. Schopenhauer 2019).
Zur Metaphorik des Disputierens
Auffällig ist, dass Schopenhauer für das Disputieren Metaphern verwendet, die einen kriegerischen Charakter besitzen – z. B. Angriff und Verteidigung, angreifen und verteidigen, Gegner, Waffen, Sieger, Streit, schlagen sowie kämpfen. Weiterhin vergleicht er das Disputieren mit dem Fechten: „treffen und parieren, darauf kommt es an, eben so in der Dialektik: sie ist eine geistige Fechtkunst“ (Schopenhauer 2019, 21 f.). Lakhoff und Johnson stellen fest, dass Metaphern nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken und Handeln betreffen. Demnach greifen wir beim Diskutieren an und verteidigen unsere Behauptung. Wir wollen unseren Gegner schlagen und die Diskussion gewinnen, indem wir Recht behalten (vgl. Lakhoff/ Johnson 2007).
Aber wie behält jemand in einer Diskussion Recht? Schopenhauer spricht von Hilfsmitteln, von einer „ungleich ausgeteilte[n] Naturgabe“ (Schopenhauer 2019, 13) – abhängig von der Schlauheit der Person. Hierfür führt er 38 so genannte Kunstgriffe an, die im Folgenden aufgelistet werden (vgl. Schopenhauer 2019).
Zum weiteren Hintergrund: Arthur Schopenhauer (1788 -1860) gilt als einer der größten Philosophen aller Zeiten. Aus seiner Feder stammen zahlreiche scharfsinnige und wortmächtige Ideen und Gedanken. Seine „Eristische Dialektik oder Die Kunst Recht zu behalten“ entstand um 1830 und wurde erst posthum aus seinem Nachlass veröffentlicht. Schopenhauer erläutert: „Eristik wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei […]. Die angeborene Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskraft reizbar ist, will nicht haben, dass, was wir zuerst aufgestellt [haben], sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe.“ Schopenhauer hat sich an verschiedenen Stellen seines Werkes persönlich von dieser rhetorischen Schule der Sophistik/Rabulistik distanziert.
38 Stratageme
Vielleicht war das auch der Grund, weswegen das Buch zu Schopenhauers Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde. In der Eristischen Dialektik werden 38 Stratageme dargestellt, mit denen der Sprecher „per fas et nefas“ (also mit erlaubten und unerlaubten Mitteln, d.h. auch durch Täuschung, Manipulation etc.) in Gesprächen als derjenige erscheinen möchte, der sich im Recht befindet – völlig unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Es geht also primär darum, zu gewinnen (in den Augen der Zuhörer, vll. sogar in denen des Kontrahenten). Schopenhauer beschreibt aber auch an vielen Stellen, wie man sich gegen die Rechthaberei zur Wehr setzen kann.
Dieser Beitrag ist inspiriert durch: Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten in 38 Kunstgriffen dargestellt – von Arthur Schopenhauer.
Besondere Beachtung verdient Arthur Schopenhauers „Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten in 38 Kunstgriffen dargestellt“. Der Text ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Im 2. Kapitel seiner Parerga und Paralipomena, § 26, gewährt Schopenhauer Einblicke in seine Entstehungsgeschichte:
„Die Leute, wie sie in der Regel sind, nehmen es schon übel, wenn man nicht ihrer Meinung ist: dann sollten sie aber auch ihre Meinungen darauf einrichten, daß man denselben beitreten könnte. Nun aber gar an einer Kontroverse mit ihnen wird man […] meistens nur Verdruß erleben; indem man dabei es nicht allein mit ihrer intellektuellen Unfähigkeit, sondern gar bald auch mit ihrer moralischen Schlechtigkeit zu thun haben wird. Diese nämlich wird sich kund geben in der häufigen Unredlichkeit ihres Verfahrens beim Disputiren. Die Schliche, Kniffe und Chikanen, zu denen sie, um nur Recht zu behalten, greifen, sind so zahlreich und mannigfaltig, und dabei doch so regelmäßig wiederkehrend, daß sie mir […] ein eigener Stoff zum Nachdenken wurden, welches sich auf das rein Formale derselben richtete, nachdem ich erkannt hatte, daß so verschieden auch sowohl die Gegenstände der Diskussion, als die Personen seyn mochten, doch die selben und identischen Schliche und Kniffe stets wiederkamen und sehr wohl zu erkennen waren.
Dies brachte mich damals auf den Gedanken, das bloß Formale besagter Schliche und Kniffe vom Stoff rein abzusondern und es, gleichsam als ein sauberes anatomisches Präparat, zur Schau zu stellen. Ich sammelte also alle die so oft vorkommenden unredlichen Kunstgriffe beim Disputiren und stellte jeden derselben in seinem eigentümlichen Wesen, durch Beispiele erläutert und durch einen eigenen Namen bezeichnet, deutlich dar, fügte endlich auch die dagegen anzuwendenden Mittel, gleichsam die Paraden zu diesen Finten, hinzu; woraus denn eine förmliche ERISTISCHE DIALEKTIK erwuchs.“
Gleichwohl: Das Werk wurde nie ganz vollendet und auch erst posthum publiziert. Es fanden sich mehrere Titelvarianten. Der heute weithin übliche Titel suggeriert, dass es sich um Ratgeberliteratur handelt mit Tipps und Tricks, Recht zu behalten. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist es doch gerade diese Rechthaberei, die Schopenhauer an vielen Stellen seines Buches geißelt. Das Buch ist vielmehr als ein Ratgeber – es ist eine tiefsinnige philosophische Betrachtung des verbal streitenden, d.h. disputierenden Menschen (homo disputandus).
Arthur Schopenhauer (1788-1860), Autor des einflussreichen philosophischen Werks Die Welt als Wille und Vorstellung, gilt als einer der scharfsinnigsten und mithin bedeutendsten deutschen Philosophen, was sein Buch per se betrachtenswert macht, auch wenn es Fragment geblieben und erst posthum veröffentlicht worden ist. Es geht darin streng genommen auch nicht nur ums Argumentieren und die Ausführungen beruhen v.a. auf persönlichen Beobachtungen und deren Interpretationen. Gleichwohl finden sich in dem schmalen Buch auch zahlreiche Referenzen zur (griechischen) Rhetorik, insbesondere zu Aristoteles. Schopenhauer selbst definiert den Titel seines Buchs wie folgt: „Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas (mit Recht und mit Unrecht).“ (Schopenhauer 1989, 9) Dies könne z.B. dann von Bedeutung sein, wenn zwar ein Argument widerlegt wird, die Schlussfolgerung aber dennoch richtig war (weil es womöglich andere gute Gründe gibt). Tatsächlich Recht zu haben und auch Recht zu bekommen, sind zweierlei (ebd.), so Schopenhauer. In der Eristischen Dialektik gehe es darum, zumindest den Anschein bei den Zuhörern zu erwecken, Recht zu haben – unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht.
Dies ist v.a. deshalb nötig, weil Schopenhauer den Menschen für einen unverbesserlichen Rechthaber hält mit einer „natürlichen Schlechtigkeit“, (…) angeborenen Eitelkeit, (…) Geschwäzzigkeit und angeborene(n) Unredlichkeit.“ (ebd.) Das Streben nach Wahrheit weiche dem Willen, Recht zu behalten, so Schopenhauer, selbst dann noch, wenn man selbst erkenne, dass man nicht richtig liegt – „ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch wahr erscheinen.“ (ebd., 11) Allerdings: Dies könne durchaus einen nachvollziehbaren Hintergrund haben, so Schopenhauer. Denkbar ist nämlich, dass uns „das rettende Argument“ (ebd., 11) gerade nicht einfällt, später aber schon.
Für diesen Fall sei es taktisch klüger, seinen Standpunkt nicht vorschnell aufzugeben; „hiedurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputiren beinahe genöthigt, wenigstens leicht verführt.“ (ebd., 12) Und weiter: „Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft“. (ebd.) Dies, so Schopenhauer, empfehle auch Machiavelli „Herrschte Treue und Redlichkeit, so wäre es ein andres; weil man sich aber deren nicht zu versehn hat, so darf man sie nicht üben, weil sie schlecht bezahlt wird: – eben so ist es beim Disputiren: gebe ich dem Gegner Recht sobald er es zu haben scheint; so wird der schwerlich dasselbe thun, wann der Fall sich umkehrt (…).“ (ebd.)
Schopenhauer geht davon aus, „wer als Sieger aus einem Streit geht, verdankt es sehr oft, nicht sowohl der Richtigkeit seiner Urtheilskraft bei Aufstellung seines Satzes, als vielmehr der Schlauheit und Gewandheit mit der er ihn vertheidigte.“ (ebd., 14) Dies sei die Aufgabe der Dialektik, „unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist).“ (ebd., 16) Gleichwohl sei es umso leichter, Recht zu behalten, wenn man tatsächlich auch Recht habe. Wichtig sei die Dialektik für diesen Fall auch deshalb, weil sie dabei helfen könne, sich gegen unredliche Argumentationen zu wehren, „oder den Gegner mit gleichen Waffen zu schlagen.“ (ebd., 17) Schopenhauer gibt weiterhin zu bedenken, dass die Wahrheit oftmals auch gar nicht bekannt ist; oft glaube man es zwar, irre sich aber, „oft glauben es beide Theile: denn veritas est in puteo (…) [die Wahrheit ist in der Tiefe, Democrit] …“ (ebd.)
In Abgrenzung zur Logik, der es um die objektive Wahrheit gehe, und zur Sophistik, die auf die Durchsetzung immer falscher Sätze abziele, bezeichne die Dialektik die „geistige Fechtkunst zum Rechtbehalten im Disputiren (…)“. (ebd., 18f.) Was Schopenhauer nachfolgend als 38 „Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputiren“ zusammenstellt, diene dem Zweck, dass man „sie gleich erkenne und vernichte.“ (ebd., 20) – und „zum eignen Gebrauch (…)“ (ebd.). Prinzipiell gebe es „2 Modi und 2 Wege“, Thesen zu widerlegen. Die zwei Modi sind ad rem und ad hominem bzw. ex concessis, d.h. fehlende Übereinstimmung mit objektiver oder subjektiver Wahrheit (vgl. ebd., 21). Unter den beiden Wegen versteht Schopenhauer die direkte und die indirekte Widerlegung, die sich erstens auf die Gründe, oder zweitens auf die Folgen beziehen. (vgl. ebd.) Direkte und indirekte Widerlegung lassen sich zudem noch weiter differenzieren (vgl. ebd., 22ff.). „Dies ist das Grundgerüst, das Skelett jeder Disputation; wir haben also ihre Osteologie.“ (ebd., 23) Kompliziert werde das Disputieren dann aber dadurch, dass „dies alles (…) wirklich oder nur scheinbar, mit ächten oder mit unächten Gründen geschehen (…)“ kann. (ebd.) Ob man recht oder unrecht hat, „kann man selber nicht sicher wissen: und es soll ja erst durch den Streit ausgemacht werden.“ (ebd.)
Bevor Schopenhauer seine 38 Kunstgriffe, die er auch Stratageme nennt, im Detail vorstellt, gibt er noch folgenden Punkt zu bedenken, der auch in aktueller Forschung, wenn auch nur als Desiderat[1], angesprochen wird: „Contra negantem principia non est disputandum [Mit einem, der die Anfangssätze bestreitet, ist nicht zu streiten].“ (ebd., 24) Sprachlich auffällig ist, dass Schopenhauer in seinem Text Metaphern für das Disputieren verwendet, die einen kämpferischen resp. kriegerischen Charakter besitzen – z. B. Angriff und Verteidigung, angreifen und verteidigen, vernichten, Gegner, Waffen, Sieger, schlagen sowie kämpfen. Weiterhin vergleicht er das Disputieren mit dem Fechten: „treffen und parieren, darauf kommt es an, eben so in der Dialektik: sie ist eine geistige Fechtkunst“ (ebd., 21f.). Es soll an anderer Stelle dieser Arbeit noch genauer untersucht werden, welche Zusammenhänge hier zu Lakoffs und Johnsons Metapherntheorie bestehen.
Im Folgenden werden die 38 Kunstgriffe resp. Stratageme kurz vorgestellt; die Zusammenfassung ist inhaltlich nicht immer ganz kohärent, orientiert sich aber an der Schopenhauerschen Reihenfolge.
Kunstgriffe 1, 2 und 3: Erweiterung, Homonymie und Verabsolutierung
Kunstgriff 1 erweitert den Gültigkeitsbereich von Aussagen dergestalt, dass die Behauptung dann z.T. nicht mehr zutrifft bzw. mehr Angriffspunkte bietet; es handelt sich um eine Verallgemeinerung. Gegenmittel wäre es es, den Gültigkeitsbereich zu verengen, d.h. auf den konkreten Streitpunkt zurückzuführen. Die Redewendung „Ausnahmen bestätigen die Regel“ passt zu diesem Stratagem. Kunstgriff 2 spielt mit Homonymen und missdeutet sie gezielt, d.h. verschiebt den inhaltlichen Fokus. Es handelt sich um bewusstes Missverstehen durch Mehrdeutigkeiten. Kunstgriff 3 verändert den wesentlichen Bezugspunkt einer Behauptung, verknüpft verzerrend bzw. verabsolutiert.
Kunstgriffe 4, 5 und 6: verstreute, falsche und fehlende Prämissen
Kunstgriff 4 liegt darin, Prämissen für eine bestimmte These im Gespräch verstreut zu nennen und bestätigen zu lassen, ohne dabei transparent zu machen, welches Ziel damit verfolgt wird. Ist das zu auffällig, könnte es auch zunächst um Prämissen von Prämissen gehen. Grundsätzlich wird das Ziel verfolgt, Zustimmung zu erhalten – häppchenweise. Kunstgriff 5 setzt gezielt falsche Prämissen ein, die vom Opponenten aber für wahr gehalten und deshalb bestätigt werden. Richtige Schlüsselkönnen laut Schopenhauer auch aus falschen Prämissen gezogen werden. Es handelt sich dabei also um eine gespielte Zustimmung (ad populum oder ex concessis) mit abschließender Kehrtwendung. Mit Kunstgriff 6 (Zirkelbeweise) werden Aussagen getroffen, die eigentlich noch zu beweisen sind, z.B. durch Verwendung synonymer Begriffe, (unzulässige) Induktion resp. Deduktion.
Kunstgriffe 7, 8, 9, 10 und 11: Fragen (nicht) stellen und zum Zorn reizen
Kunstgriff 7 empfiehlt, viel und weitläufig zu fragen, um zu verbergen, worauf man hinaus will. Was dann zugestanden wird, solle man zügig aufgreifen, um den eigenen Standpunkt zu stärken. Auf diese Weise können Fehler und Lücken in der Argumentation unbemerkt bleiben. Kunstgriff 8 fällt hier etwas aus dem Rahmen. Er sieht vor, den Opponenten zum Zorn zu reizen, damit er in seiner Urteilskraft geschwächt wird. Dies sei durch Schikane und Unverschämtheit zu erreichen (womöglich durch unverschämte Fragen). Kunstgriff 9 schlägt eine Fragetechnik vor, die den Opponenten desorientiert. Fragen werden (scheinbar) ungeordnet gestellt und die Antworten dem eigenen Ziel entsprechend verwendet. Kunstgriff 10 meint, das Gegenteil zu fragen, damit nicht absichtlich verneint wird; oder zwei Fragen alternativ zu stellen und also Bejahung oder Verneinung zulassen, damit der Gesprächspartner nicht vorwegnehmen kann, welche Antwort die eigene These stützt. Kunstgriff 11 rät davon ab, danach zu fragen, ob nach erfolgter Zustimmung zu Einzelaspekten der eigene Schluss daraus gezogen werden könne. Stattdessen solle man die Konklusion direkt und als sicher geltend daraus ableiten, was Publikum und sogar Opponenten überzeugen könne.
Kunstgriffe 12, 13, 14 und 15: Euphemismus und Dysphemismus, Kontrast und dreiste Behauptung
Kunstgriff 12 macht sich zunutze, dass bestimmte Begriffe zur Bezeichnung von Personen, Zielen etc. i.d.R. nicht neutral, sondern in gewisser Weise (ab- resp. auf-)wertend sind. So ist es ein Unterschied, ob man von von Freiheitskämpfern oder Terroristen spricht. Psycholinguistisch ist das Thema gegenwärtig unter dem Begriff „Framing“ relevant. Auch Kunstgriff 13 setzt Sprache strategisch ein, indem gezielt und stark kontrastiert wird, um in die gewünscht Richtung zu lenken. Kunstgriff 14 wird von Schopenhauer selbst als unverschämt bezeichnet: Hat es bereits hier und da Zustimmung gegeben, – egal, ob die eigentliche These damit gestützt wird oder nicht – solle man dreist behaupten, dass der eigene Standpunkt damit bewiesen ist. Auch zu Kunstriff 15 gehört äußerste Unverschämtheit. Ist kein passendes Argument zur Hand, so können irgendeins vorgebracht werden, das im Grunde nachvollziehbar ist, aber in keinem direkten Zusammenhang steht. Wird das Offensichtliche vom Opponenten zurückgewiesen, sei er ad absurdum geführt. Bei Zustimmung können man z.B. mit Kunstgriff 14 fortfahren.
Kunstgriffe 16, 17, 18, 19, 20, 21 und 22: Widersprüche, Spitzfindigkeiten und Themenwechsel
Kunstgriff 16 findet Widersprüche in der Argumentation oder Person (ad hominem) des Opponenten, scheinbar oder tatsächlich. Kunstgriff 17 macht sich Doppeldeutigkeit oder einen doppelten Fall (d.h. eine Ausnahme) zunutze, geht also spitzfindig vor. Kunstgriff 18 bricht bei ungünstigem Verlauf den Disput komplett ab oder wechselt zumindest das Thema (mutatio controversiae). Populärwissenschaftlich ist auch von Derailling die Rede. Kunstgriff 19 bezeichnet im Grunde auch ein Ablenkungsmanöver, indem auf sehr allgemeine Überlegungen abgestellt wird, z.B. auf den trügerischen menschlichen Verstand im Ganzen. Kunstgriff 20 fällt hier aus der Reihe und ist im Grunde identisch mit Kunstgriff 11 (s.o.) mit der Ergänzung, dass die Konklusion auch dann schon formuliert werden kann, wenn noch Prämissen fehlen. Kunstgriff 21 empfiehlt, auf ein argumentum ad hominem mit einem ebensolchen zu reagieren; dieser Weg sei kürzer und Erfolg versprechend. Kunstgriff 22 sieht eine petitio principii vor, d.h. den Vorwurf an den Opponenten, lediglich einen Scheinbeweis vorzubringen. Ein Beispiel könnte sein, dass im Kampf um mehr soziale Gerechtigkeit damit argumentiert wird, dass man nun gerechter handeln wolle; dabei müsste ja nun eben definiert werden, was Gerechtigkeit überhaupt ist.
Kunstgriffe 23, 24, 25 und 26: Mit den eigenen Waffen schlagen
„Der Widerspruch und der Streit reizt zur Uebertreibung der Behauptung.“ (ebd., 49) Kunstgriff 23 rät zum Widerspruch, um eine Übertreibung zu provozieren. Die kann leichter widerlegt werden. Selbst solle man sich aus dem gleichen Grund aber hüten, zu übertreiben. In Kunstgriff 24 spricht Schopenhauer von der „Konsequenzmacherei“ (ebd., 50) und meint damit, aus gegnerischen Argumenten Schlüsse zu ziehen, die bewusst falsch und irreführend, „absurd oder gefährlich“ (ebd.) sind – eine Variante der fallacia non causae ut causae. Kunstgriff 25 macht sich zunutze, dass es kaum absolute Wahrheiten gibt. In der Regel finden sich Ausnahmen. Diese sollen bewusst benannt werden, um den Anschein zu erwecken, dass auch die allgemeine Regel nicht stimmen kann. Eine mögliche Replik: Ausnahmen bestätigen die Regel. Der von Schopenhauer empfohlenen „retorsio argumenti“ (ebd., 52) liegt die Erkenntnis zugrunde, dass bei gleichem Kenntnisstand unterschiedlich bewertet werden kann. Als Beispiel wird für Kunstgriff 26 der Fall eines Kindes genannt, dem man ungezogenes Verhalten (noch) nachsehen müsse. Die retorsio argumenti dreht die Sache um: Eben weil es ein Kind ist und also noch erzogen werden könne, muss dies auch getan werden. Kurz: Das Argument wird zum Gegenargument.
Kunstgriffe 27, 28 und 29: taktische Manöver
Reagiert die andere Seite verärgert oder sogar zornig auf ein Argument, hat das zwei Vorteile: derlei negative Emotionen sind von Nachteil für die andere Seite und lassen auch darauf schließen, dass hier eine Schwachpunkt liegt. Kunstgriff 27 empfiehlt deshalb, an der Stelle weiterzumachen. Kunstgriff 28 richtet sich gezielt ad auditores: Adressiert wird die unkundige Zuhörerschaft, die die gezielte Täuschung durch ein falsches Argument nicht durchschaut. Die Wirkung wird verstärkt, wenn die Gegenseite lächerlich gemacht wird und das Publikum lacht. Der Kunstgriff kommt zur Anwendung, wenn Argumente ad rem und ad hominem fehlen. Als Diversion bezeichnet Schopenhauer ein Vorgehen, das vom Thema ablenkt: Kunstgriff 29. Sinnvoll sei das, wenn man merkt, dass man sachlich-argumentativ verliert.
Kunstgriffe 30, 31, 32, 33 und 34
„Unusquisque mavult credere quam judicare“ (ebd., 57) – mit diesem Zitat Senecas begründet Schopenhauer Kunstgriff 30: Jeder will lieber glauben als urteilen. Es geht beim argumentum ad verecundiam darum, Autoritäten zu finden, die die eigene Position stützen. Wer allerdings als Autorität anerkannt wird, ist unterschiedlich und auch abhängig von Kenntnisstand und Status der Opponenten bzw. Zuhörer. Während sich bei hohen Bildungsgraden kaum Autoritäten finden lassen, gibt es für bildungsferne Gruppen viele. Findet sich auf die Schnelle keine passende Autorität, so könne man einfach welche erfinden. In der Regel, so Schopenhauer, bliebe dies unbemerkt. Auch öffentliche Meinungen resp. Vorurteile würden oft eine starke Wirkung entfalten, daher könne man sich daran im Zweifelsfall orientieren (ebd., 59) Autoritäten als Argument ins Feld zu führen, ist für Schopenhauer eine weit verbreitete Vorgehensweise. Sollte man als Argumentierender mit solidem Sachverstand mit Autoritätsargumenten konfrontiert werden, so sei es sogar ratsam, auch mit Autoritäten zu argumentieren, weil eigenes Denken bei Denkfaulen laut Schopenhauer nicht sehr hoch im Kurs steht. Kunstgriff 31 ist als ironisches Spiel zu verstehen. Gespielt wird mit der eigenen Autorität, indem vorgegaukelt wird, man könne das Argument der Gegenseite wegen des eigenen schwachen Verstandes (angeblich) nicht verstehen.
So kann bei den Zuhörern der Eindruck erweckt werden, dass es Unsinn sein muss. (ebd., 65) Angewandt werden darf dieser Kunstgriff laut Schopenhauer aber nur dann, wenn man ein höheres Ansehen bei der Zuhörerschaft genießt als der Gegner. Der Gegenstreich: Man gibt zu, selbst schuld am Unverständnis zu sein mangels nachvollziehbarer Darstellung, und erklärt erneut und unabweisbar. Kunstriff 32 bringt ein Gegenargument in einen auch von der Zuhörerschaft (mutmaßlich) so gesehenen kritischen Zusammenhang (z.B. „Das ist aber eine ziemlich rechte Position!“). Damit soll auch das Argument diskreditiert werden. Kunstgriff 33 spielt die Theorie gegen die Praxis aus: „Das mag in der Theorie richtig seyn; in der Praxis ist es falsch.“ (ebd., 67) Mit diesem Sophisma werden die Gründe akzeptiert, die Folgen aber geleugnet. Wenn die Gegenseite Antworten auf berechtigte Fragen schuldig bleibt oder ausweichen will, so ist das laut Schopenhauer ein klares Zeichen dafür, dass wir einen Schwachstelle gefunden haben; hier muss nachgehakt werden – das ist Kunstgriff 34.
Kunstgriffe 35, 36, 37 und 38: Eigeninteresse, Wortschwall und Herabwürdigung
Kunstgriff 35 allein kann laut Schopenhauer entscheidend sein und alle anderen Kunstgriffe entbehrlich machen (vgl. ebd., 69): Es geht dabei um die Verfolgung eigener Interessen. „Der Intellekt ist kein Licht, das ohne Öl brennte, sondern er wird von den Leidenschaften genährt.“ (ebd., 71) Als Bezeichnung für diesen Kunstgriff schlägt Schopenhauer vor: „den Baum bei der Wurzel anfassen.“ (ebd.) Ein besonders tückisches Vorgehen wird in Kunstgriff 36 beschrieben: Auf kritische Nachfragen des Opponenten nach einem gestelzten Wortschwall folgt die gespielte Empörung, man können den Gesprächspartner doch nicht mit Argumenten und zudem noch mit Verstand versorgen. Kunstgriff 37 nutzt eine Schwachstelle in der Argumentation der anderen Seite aus: Stimmt zwar die These, das Argument aber ist schwach, so greift man also das Argument an und bringt die These insgesamt zum Einsturz. Schließlich der letzte Kunstgriff (38) in Schopenhauers Eristischer Dialektik: Man „werde persönlich, beleidigend, grob.“ (ebd., 76)
Schopenhauer nennt es in Abgrenzung zum argmentum ad hominem hier argumentum ad personam, denn: „Beim Persönlichwerden aber verlässt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Thierheit. Diese Regel ist sehr beliebt, weil Jeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häufig angewandt.“ (ebd.) Wie lässt sich damit umgehen? Es ist keine Lösung, nur zu schweigen und nicht selbst persönlich zu werden, so Schopenhauer. Man könne stattdessen ruhig bleiben, die Beleidigungen als nicht zur Sache gehörig verbal abtun und sachlich argumentieren. „Das ist aber nicht Jedem gegeben.“ (ebd., 79) Mit einem Bezug auf die Topica von Aristoteles fände sich laut Schopenhauer aber doch ein Mittel. Dieser letzte Abschnitt aus der Eristischen Dialektik soll hier vollständig wiedergegeben werden, weil er in nuce zeigt, wie Schopenhauer das Disputieren gesehen hat: nämlich als menschliche Tätigkeit, die sich sehr menschlich vollzieht.
Nun der abschließende Rat Schopenhauers, und seine weiteren Einsichten zur gesamten Thematik: „Nicht mit dem Ersten dem Besten zu disputieren; sondern allein mit solchen die man kennt, und von denen man weiß, daß sie Verstand genug haben, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit guten Gründen zu disputieren und nicht mit Machtansprüchen, und um auf gute Gründe zu hören und darauf einzugehen; und endlich daß sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der anderen Seite liegt.
Daraus folgt, daß unter Hundert kaum Einer ist, der werth ist daß man mit ihm disputirt. Die Uebrigen lasse man reden was sie wollen, denn desipere est juris gentium (unverständig sein ist Menschenrecht), und man bedenke was Voltaire sagt: La paix vaut encore mieux que la vérité! (Der Friede ist mehr wert als die Wahrheit): und ein Arabischer Spruch ist: „Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht der Friede.“ Das Disputiren ist als Reibung der Köpfe allerdings oft von gegenseitigem Nutzen, zur Berichtigung der eignen Gedanken und auch zur Erzeugung neuer Ansichten. Allein beide Disputanten müssen an Gelehrsamkeit und an Geist ziemlich gleichstehn. Fehlt es Einem an der ersten, so versteht er nicht Alles, ist nicht au niveau. Fehlt es ihm am zweiten, so wird die dadurch herbeigeführte Erbitterung ihn zu Unredlichkeiten und Kniffen oder zu Grobheit verleiten.“ (ebd., 79ff.)
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Literatur
Hannken-Illjes, Kati (2018): Argumentation. Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation, Tübingen
Johnson, Mark und Lakoff, George (2007): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern.
Schopenhauer, Arthur: Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten in 38 Kunstgriffen dargestellt. Erstveröffentlichung posthum. Haffmanns Verlag AG Zürich 1989.
Thibodeau PH, Boroditsky L (2011): Metaphors We Think With: The Role of Metaphor in Reasoning. PLoS ONE 6(2): e16782. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0016782
[1] Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement, in: Hannken-Illjes, Kati (2018): Argumentation. Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation, Tübingen, 172-177.
Eristische Dialektik – die Schattenseite der Kommunikation – AAZB
Transkript zum Erklärfilm
Bei Eristischen Dialektik nach Arthur Schopenhauer geht es darum, beim Diskutieren Recht zu behalten und zwar auf erlaubte oder unerlaubte Weise. Auf erlaubte Weise bedeutet, die Wahrheit zu sagen, auf unerlaubte Weise hingegen, nicht die Wahrheit zu sagen. Bemerken wir hinterher, dass wir Unrecht hatten, sollen wir es so wirken lassen, als hätten wir Recht. Bei der Eristischen Dialektik kommt es nicht auf die Richtigkeit der Aussage an, sondern darauf, ob wir unsere Aussagen verteidigen können und die Verteidigung vom Gesprächspartner als richtig hingenommen wird. Das Interesse für Wahrheit weicht dem Interesse für Eitelkeit, die Schopenhauer als wesentliche Eigenschaft des Menschen erachtet. Nach Schopenhauer können wir nicht wissen, was die Wahrheit ist — deshalb können wir diese im Disput außer Acht lassen.