kulturelles Gedächtnis

kulturelles GedächtnisAssmann und Assmann definieren das kulturelle Gedächtnis aus kulturwissenschaftlicher Sicht als „Tradition in uns, […] die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.“ (Assmann, J. 2006, 70)

Die Trias des Gedächtnisses

Der vor allem in den Erinnerungsdiskursen der Kulturwissenschaften gebräuchliche Ausdruck ist Teil einer begrifflichen Trias, welche nach Aleida Assmann grundverschiedene Formen des Gedächtnisses beschreibt:

1. Das individuelle Gedächtnis

Das individuelle Gedächtnis bezieht sich auf die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen eines Menschen. Es entsteht durch individuelle Lernprozesse und ist eng mit der Identität und der Biographie des Einzelnen verbunden. Es ist geprägt von persönlichen Einflüssen wie Emotionen, Sinneseindrücken und persönlicher Bedeutung. Das individuelle Gedächtnis ist zeitlich begrenzt und entwickelt sich im Laufe des Lebens kontinuierlich weiter. Es ist aber auch durch Vergessen und Verdrängen gekennzeichnet.

2. Das (soziale) kommunikative Gedächtnis

Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich auf die kollektiven Erinnerungen und Vorstellungen einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft. Es entsteht durch Austausch und Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern. Das kommunikative Gedächtnis ist geprägt von gemeinsamen Symbolen, Ritualen und Mythen, die mündlich und schriftlich weitergegeben werden. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung und dem Zusammenhalt einer Gruppe. Das kommunikative Gedächtnis hat eine längere Lebensdauer als das individuelle Gedächtnis und kann von Generation zu Generation weitergegeben werden.

3. Das kulturelle Gedächtnis 

Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich auf das kollektive Wissen und die kulturellen Erfahrungen einer Gesellschaft. Es umfasst sowohl das individuelle als auch das kommunikative Gedächtnis und ist in kollektiven Institutionen wie Schulen, Museen, Archiven und Medien verankert. Das kulturelle Gedächtnis ist abstrakter und allgemeiner als das individuelle Gedächtnis, da es auf einer gemeinsamen Kultur und Geschichte beruht, die von vielen Menschen geteilt wird. Es umfasst auch das Wissen und die Erinnerung an vergangene Ereignisse, die vor der individuellen Erfahrung liegen. Das kulturelle Gedächtnis bildet die Grundlage für kollektive Identitäten und ermöglicht es einer Gesellschaft, sich ihrer Vergangenheit und ihres kulturellen Erbes bewusst zu werden. (vgl. Assmann, A. 2006, 13)

Diese drei Formen des Gedächtnisses sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Das individuelle Gedächtnis wird durch das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis geformt und beeinflusst, während das kommunikative Gedächtnis auf individuellen Erinnerungen aufbaut und das kulturelle Gedächtnis durch die Weitergabe und Verbreitung von Erinnerungen aufrechterhält. Durch die Interaktion dieser drei Formen des Gedächtnisses entsteht eine kontinuierliche Verbindung zwischen individuellen Erfahrungen, sozialen Bindungen und kultureller Identität.

Formen der Erinnerung

Während das individuelle Gedächtnis einer Person mit impliziten sowie expliziten, also autobiographischen Erinnerungen gefüllt ist, werden Erinnerungen auch durch die Interaktion mit anderen im kollektiven Gedächtnis bewahrt, d. h. in der Familie, in einer sozialen Gruppe oder in der Gesamtgesellschaft. Kommunikative, also mündliche Überlieferungen werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs beschreibt das Verhältnis zwischen individuellen Erinnerungen und der Gesellschaft folgendermaßen: „Meistens erinnere ich mich, weil die anderen mich dazu antreiben, weil ihr Gedächtnis dem meinen zu Hilfe kommt, weil meines sich auf ihres stützt. Zumindest in diesen Fällen hat die Erinnerung nichts Mysteriöses an sich“ (Halbwachs 1966, 20 f.).

Doch „unsere Erinnerungen sind nicht nur sozial, sondern auch kulturell <<eingebettet>>“ (Assmann, J. 2006, 69). Texte, Bilder, Dinge, Symbole und Riten bilden das kulturelle Gedächtnis und sind Grundlage unserer kulturellen Identität. Träger dieser kulturellen Überlieferungen sind „extern[e] Speichermedien und kulturell[e] Praktiken“ (Assmann, A. 2006, 19), die Sprache, Bilder, Stimmen und Töne konservieren. Denn „erst Speicherorte und -medien machen aus einem kommunikativen Gedächtnis ein wirklich kulturelles Gedächtnis.“ (Reichwein 2018)

Geschichte und Identität

Doch wie wird festgelegt, was wir erinnern und was vergessen? AfD-Kreise fordern eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ und marginalisieren den Holocaust als „Vogelschiss“. Der sogenannte „Schuldkult“ der Deutschen wird angeprangert und somit das kulturelle Gedächtnis zunehmend in Frage gestellt.

Deutlich wird, dass das kulturelle Gedächtnis nicht statisch ist. Es ist Dynamiken und Veränderungen unterworfen, die gesamtgesellschaftlich diskutiert und  verhandelt werden müssen. Denn „was erinnert und was vergessen wird, ist in hohem Maße geformt, organisiert und rekonstruiert“ (Reichwein 2018).

 

*Jan und Aleida Assmann sind ein bekanntes deutsches Wissenschaftlerehepaar, das sich vor allem mit Kulturwissenschaften, Erinnerungskultur und Gedächtnisforschung beschäftigt. Ihre Forschungen haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Thema „Erinnerung“ in der öffentlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Jan Assmann wurde am 7. Juli 1938 im niedersächsischen Langelsheim geboren. Er studierte Ägyptologie, Assyriologie und Ethnologie an der Freien Universität Berlin und promovierte 1966 an der Universität Tübingen. Nach seiner Habilitation 1971 wurde er dort Dozent und später Professor für Ägyptologie. Assmann lehrte aber auch an verschiedenen anderen Universitäten im In- und Ausland, unter anderem an den Universitäten Heidelberg, Konstanz und Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen vor allem in den Bereichen ägyptische Kulturgeschichte, Religion und Gedächtnis. Aleida Assmann wurde am 22. März 1947 im westfälischen Bethel geboren. Sie studierte Anglistik, Klassische Philologie und Kulturwissenschaft in Köln und promovierte 1976 an der Universität Konstanz. Nach Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten wurde sie 1998 als Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft an die Universität Konstanz berufen. Assmann hat sich insbesondere mit Fragen der Erinnerungskultur und des kulturellen Wandels beschäftigt. Jan und Aleida Assmann haben die so genannte „Kulturanthropologie des Alten Ägypten“ entwickelt, deren Ziel es ist, die Bedeutung der ägyptischen Kultur für das Verständnis der menschlichen Kultur überhaupt herauszuarbeiten. Ihre Arbeiten beschränken sich jedoch nicht auf das Alte Ägypten, sondern greifen auch aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen auf. So haben sie unter anderem zur Erinnerungskultur in Deutschland nach dem Holocaust geforscht und die Rolle der Erinnerung in der globalisierten Gesellschaft untersucht.Gemeinsam haben sie zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst, in denen sie ihre Forschungsergebnisse präsentieren und theoretische Ansätze weiterentwickeln. Beide haben durch ihre interdisziplinären und gesellschaftspolitischen Arbeiten großen Einfluss gewonnen und werden international als Experten auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung geschätzt. Jan Assmann erhielt für seine Arbeiten mehrere renommierte Preise, darunter 2011 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, Aleida Assmann wurde unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis und dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet.

 

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Literatur

Assmann, Aleida (2006): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl. Beck: München.

Assmann, Jan (2006): Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. Beck: München.

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp: Berlin.

Reichwein, Marc (2018): Warum keine Nation ohne Gedächtnis leben kann. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article177671164/Nation-und-Erinnerung-So-funktioniert-das-kulturelle-Gedaechtnis.html [13.11.2018].

Kulturelles Gedächtnis & kollektives Gedächtnis | IKUD Glossar

 

Eine wahre interkulturelle Begebenheit wird in dem Buch Intercultural stories: Menschliche Begegnungen aus aller Welt – lustig, lehrreich, lebensecht  geschildert:

Extra-Sausage

Ich, eine 21-jährige Deutsche, saß mit einem anderen Deutschen, einem Australier und zwei Amerikanern an einem Tisch zum BBQ. Wir redeten über eine Mitreisende, die sie sich nicht gut in die Reisegruppe integrierte und ständig Sonderwünsche hatte. Während dieses Gesprächs sagte der Deutsche: „She always wants her own sausage!“ Alle anderen schauten ihn ziemlich verwirrt an. Die englischsprachigen Gesprächsteilnehmer waren irritiert, da sie während der Reise nie Würstchen gegrillt hatten. Einer der Amerikaner meinte nur: „We never had sausages!“

 

Gebetsstunde

Ich arbeite seit einigen Jahren in der Gastronomie. Vor ungefähr zwei Jahren bekam ich einen neuen Chef, der gebürtig aus Syrien stammt und dessen Religion der Islam war. Zu bestimmten Uhrzeiten verschwand er immer für eine Weile im Keller, ich dachte, er kümmerte sich um Bestellungen oder ähnliches.

An einem Abend war es schließlich voll im Laden und wir brauchten seine Hilfe, also ging ich in den Keller, um nach ihm zu schauen. Ich fand ihn betend auf einem Teppich und sprach ihn an, weil es wichtig war, dass er in den Gastraum kam. Er reagierte jedoch nicht, und nach mehrmaligem Nachfragen – ohne eine Reaktion seinerseits – ging ich etwas verärgert wieder in den Gastraum, um weiterzuarbeiten.

Etwa eine Viertelstunde später kam Rashid aus dem Keller, nahm mich zur Seite und entschuldigte sich dafür, dass er mir nicht geantwortet hatte. Er erklärte mir, dass er immer im Keller bete, damit es nicht so auffalle, er aber während des Gebets nicht sprechen dürfe, daher habe er mir auch nicht antworten können.