Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz: Was bedeutet es, mit einer Kultur in Berührung zu kommen, die neu ist, anders, fremd? Denkbar ist, dass wir v.a. neugierig sind. Erwartungsvoll. Gespannt. Denkbar ist auch, dass wir uns gestört fühlen, weil wir uns auf etwas Neues einlassen müssen, das uns vielleicht nicht gefällt. Wenn wir Menschen mit einer andern Kultur begegnen, dann ist es jedenfalls sehr wahrscheinlich, dass wir etwas verunsichert sind, weil wir nicht genau wissen, was uns erwartet. Wir verstehen womöglich auch nicht gleich, was Gesagtes oder Getanes genau bedeutet… Unsicherheit ist ein häufiges und wichtiges Phänomen interkultureller Begegnung.

Diese Unsicherheit auszuhalten und angemessen mit ihr umzugehen, bezeichnet man als Ambiguitätstoleranz. Wir haben nach einer Metapher für diesen sehr fachwissenschaftlichen Begriff gesucht – und Seiltänzerin gefunden. Es geht darum, mutig und sich seiner selbst und seines Umfelds sehr bewusst zu sein; es geht darum, Balance zu halten. Seiltanz und Ambiguitätstoleranz sind ausgesprochen anspruchsvoll – man kann sie lernen. Es handelt sich um eine Schlüsselkompetenz, die im Folgenden genauer erläutert wird.

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Sozialkompetenz

Interkulturelle Kompetenz wird in den Bereich der Sozialkompetenz eingeordnet. Soziale Kompetenz ermöglicht ein adäquates Auftreten im kultureigenen Umfeld. Durch interkulturelle Kompetenz wird darüber hinaus die Interaktionsfähigkeit im kulturfremden Umfeld gefördert. Als ’sozial kompetent‘ wird eine Person bezeichnet, die sich mit Individuen fremder Kulturkreise auseinandersetzen kann. Dies gelingt, indem Personen Wahrnehmungen und Vorstellungen ihres Gegenübers erfassen können. Das eigene Sozialverhalten soll aus der Sicht der fremden Kultur hinterfragt und ggf. korrigiert werden. Dabei sollen eigene Vorstellungen von Werten und Normen nicht ausgeschlossen, sondern situativ und flexibel angepasst werden.

AmbiguitätstoleranzKultureigen und kulturfremd

Voraussetzung dafür sind das Bewusstsein über das Vorhandensein kultureigener und kulturfremder Verhaltensmuster sowie die Bereitschaft, die eigenen Wertvorstellungen zu reflektieren und zu verändern. Soziale und interkulturelle Kompetenz gelten grundsätzlich als erlernbar, wobei davon ausgegangen wird, dass in der frühen Sozialisation Grundlagen gelegt werden, die die Ausprägung der interkulturellen Kompetenz maßgeblich beeinflussen. Der Erwerb interkultureller Kompetenz beschränkt sich also nicht nur auf länderspezifisches Wissen, Fremdsprachenkenntnisse, kulturelle Bräuche oder Verhaltensmuster. Interkulturelle Kompetenz soll sensibilisieren, die eigene Kultur wahrzunehmen, zu reflektieren und zu hinterfragen. Dafür muss ein Individuum seine Kultur und die daraus resultierenden Handlungsmuster verstanden haben (vgl. Derboven/ Kumbruck 2005, 6 f.). Kühlmann identifiziert sieben Anforderungsmerkmale als Grundvoraussetzung, um interkulturelle Kompetenz zu erlangen. Dabei nennt er zunächst die Ambiguitätstoleranz (vgl. Kühlmann 1995, 36).

Ambiguitätstoleranz hinsichtlich kultureller Integration

Um interkulturelle Kompetenz besser definieren zu können, wurden verschiedene Modelle entwickelt, die zum größten Teil auf Aufzählungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale basieren. In den meisten Modellen zur interkulturellen Kompetenz wird Ambiguitätstoleranz als wesentlicher Aspekt aufgeführt (vgl. Straub/ Weidemann/ Weidemann 2007, 42 f.) Die Ambiguitätstoleranz kultureller Integration beschreibt die Fähigkeit einer Gesellschaft oder eines Individuums, mit den Unklarheiten und Unterschieden umzugehen, die sich aus der Integration verschiedener Kulturen ergeben. Damit ist die Bereitschaft gemeint, kulturelle Vielfalt anzuerkennen, zu respektieren und zu akzeptieren sowie die Fähigkeit, mit den damit verbundenen Herausforderungen und Komplexitäten umzugehen. Eine hohe Ambiguitätstoleranz bedeutet, dass eine Gesellschaft oder eine Person offen für unterschiedliche Kulturen und deren Ausdrucksformen ist, ohne sie zu bewerten oder abzulehnen. Es geht darum, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und Vielfalt als Bereicherung zu sehen. Da kulturelle Integration oft Ungewissheit und neue Erfahrungen mit sich bringt, erfordert es eine Offenheit, Neues zu entdecken und sich anzupassen.

In einer Gesellschaft mit hoher Ambiguitätstoleranz wird kulturelle Integration als positiv angesehen und es wird Wert darauf gelegt, dass sich verschiedene Kulturen gegenseitig beeinflussen und voneinander lernen können. Es wird erkannt, dass jeder Mensch eine einzigartige Perspektive hat und es wichtig ist, diese zu respektieren und zu würdigen.

Im Gegensatz dazu kann eine niedrige Ambiguitätstoleranz zu kultureller Abgrenzung und Ablehnung führen. In solchen Fällen werden Unterschiede als Bedrohung wahrgenommen und es besteht der Wunsch, die eigene Kultur als überlegen darzustellen und andere Kulturen zu assimilieren oder abzulehnen.

Die Ambiguitätstoleranz hinsichtlich kultureller Integration kann von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden, wie beispielsweise Bildung, sozialem Umfeld, persönlichen Erfahrungen und historischem Hintergrund.

Ambiguität – Herkunft und Bedeutung

Zur Etymologie: Ambiguität, ein Begriff für Zweideutigkeit oder Doppelsinn, ist eine Entlehnung aus dem 16. Jahrhundert und stammt aus dem gleichbedeutenden lateinischen Wort ambiguitās (Genitiv ambiguitātis). Vor allem in den Lexika des 19. Jahrhunderts (vgl. Campe 1801) taucht der Begriff aufgrund des Einflusses von französisch ambiguïté auf und wird von der modernen Sprachwissenschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts im Sinne von Mehrdeutigkeit sprachlicher Äußerungen wieder aufgegriffen. Vgl. Lateinisch ambiguus zweifelhaft, ungewiss, zweideutig, doppelsinnig, ambigere bezweifeln, unschlüssig sein, schwanken, aus dem Lateinischen amb(i)- ringsum, um … herum, auf beiden Seiten, und lat. agere in Bewegung setzen, treiben, handeln, bedeutet daher eigentlich etwas in zwei Richtungen treiben, über etwas von beiden Seiten denken. Zu betonen ist, dass die Ambiguitätstoleranz keine starre Eigenschaft ist, sondern sich entwickeln und verändern kann.

Kulturelle Erwartungen

In interkulturellen Begegnungen kommt es immer wieder zu neuen Situationen, die im Widerspruch zu den eigenen kulturellen Erwartungen stehen. Diese Inkongruenzen können eine starke Belastung für die Kommunikationspartner darstellen. Rollendistanz und Empathie können dabei helfen, diese Situationen wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen (vgl. Krappmann 1973, 150).

Die Interagierenden müssen sich zunächst „in den gegenseitigen Erwartungen aufeinander einstellen“ (Krappmann 1973, 151) und neue Bedingungen für die Interaktion aushandeln. Folglich können die Bedürfnisse der Interagierenden nicht mehr vollständig befriedigt werden. Dabei versuchen „alle Interaktionspartner […] in jeder Situation eine Identität aufrechtzuerhalten und zu präsentieren, die ihre Besonderheit festhält“ (Krappmann 1973, 151).

Divergenzen akzeptieren

Voraussetzung für die Teilnahme an Interaktionen ist, dass die Identität der Individuen gewahrt wird und gleichzeitig die Verschiedenheit der Erwartungen zum Ausdruck kommt. Grundsätzlich liegt in der Interaktion mit anderen Menschen die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. Um wenigstens einen Teil dieser Bedürfnisse zu befriedigen, treten Menschen in Interaktionen. Sie müssen die daraus entstehenden Divergenzen und Inkompatibilitäten akzeptieren, da sie Bestandteil jeglicher Interaktionsbeziehungen sind (vgl. Krappmann 1973, 151). Dabei wird sehr deutlich, dass „das Individuum […] der Ambivalenz nicht entfliehen [kann]“ (Krappmann 1973, 152).

Nach Krappmann ist Ambiguitätstoleranz die Fähigkeit, widersprüchliche Rollenbeteiligungen und Motivationsstrukturen gleichermaßen bei sich und bei seinen Interaktionspartnern zu dulden (vgl. Krappmann 1973, 155). Somit eröffnet Ambiguitätstoleranz dem Individuum eine Möglichkeit zur Interaktion, v. a. im interkulturellen Raum. Gleichzeitig mindert sie Ängste, indem sie dem Individuum verdeutlicht, auch in „sehr widersprüchlichen Situationen die Balance zwischen den verschiedenen Normen und Motiven halten zu können“ (Krappmann 1973, 155).

Identitätsbildung

Ambiguitätstoleranz ist folglich nicht nur in interkulturellen Begegnungen eine wichtige Kompetenz, sondern auch wichtig für die Identitätsbildung eines Individuums. In der Entwicklung seiner persönlichen Identität ist das Individuum immer wieder gezwungen, „konfligierende Identifikationen zu synthetisieren“ (Krappmann 1973, 167). Denn ohne „sie [die Ambiguitätstoleranz] ist keine Ich-Identität denkbar, da diese balancierend zwischen angesonnenen Erwartungen und im Rahmen eines gemeinsamen Symbolsystems sich artikulieren muss“ (Krappmann 1973, 167).

Jeder Mensch muss sich damit auseinandersetzen, dass sich Erwartungen und Bedürfnisse nicht immer decken und dass zwischen persönlichen Erfahrungen und allgemein gültigen Wertesystemen Lücken bestehen. Leugnet oder verdrängt ein Individuum diese Ambiguitäten, kann es keine Identität entwickeln und damit auch seinen besonderen Standpunkt in Interaktionen nicht vertreten (vgl. Krappmann 1973, 167).

 

Hier geht es zum Überblick aller Lexikonartikel…

 

Literatur

Derboven, Wibke/ Kumbruck, Christel (2005): Interkulturelles Training Trainingsmanual zur Förderung unterkultureller Kompetenz in der Arbeit. Heidelberg: Springer Verlag.

Krappmann, Lothar (1973): Soziologische Dimension der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. 3. Auflage. Stuttgart: Klett.

Kühlmann, Torsten (1995): Mitarbeiterentsendung ins Ausland – Auswahl, Vorbereitung, Betreuung und Wiedereingliederung. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie.

Straub, Jürgen/ Weidemann, Arne/ Weidemann, Doris (Hrsg.) (2007): Handbuch interkultureller Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: J. B. Metzler.

Ambiguitätstoleranz Definition – Ambiguität | IKUD Glossar

 

Transkript zum Erklärfilm

Der Begriff Ambiguität bedeutet Mehrdeutigkeit. Ambiguitätstoleranz beschreibt also die Kompetenz, Mehrdeutiges und Widersprüchliches zu erkennen und die daraus resultierende Unsicherheit zu tolerieren. In interkulturellen Begegnungen kommt es beispielsweise immer wieder zu Situationen, die im Widerspruch zu den eigenen kulturellen Erwartungen stehen. Die Beteiligten müssen diese Inkompatibilitäten dann akzeptieren, da sie Bestandteil jeglicher Interaktionsbeziehungen sind. Leugnet oder verdrängt ein Individuum die Ambiguitäten, kann es keine Identität entwickeln und seinen besonderen Standpunkt in Interaktionen nicht vertreten.